© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

In den ersten Jahren nach der Niederlage wurde kaum beobachtet, ob und wie der Strom der Flüchtlinge sich politisch teilte, staute. Die Bundesrepublik konsolidierte sich; noch bekamen die Flüchtlingsparteien eine beträchtliche Zahl Stimmen. Die Vertriebenenpolitik der CDU hielt sich im Ungefähren, deckte die Karten allenfalls halb auf, schürte, mit zusammengekniffenen Augen, Emotionen …“ (Peter Härtling, Schriftsteller, 1967)

Die neuerliche Diskussion darüber, wie links Hitler bei Ausbruch der Revolution 1918 war, bringt in der Sache wenig Neues. Seit der Untersuchung von Anton Joachimsthaler ist hinreichend klar, daß er jedenfalls nicht zu den Konterrevolutionären gehörte, keinem Freikorps beitrat und mindestens den Eindruck erweckte, als ob er mit der Mehrheitssozialdemokratie sympathisierte. Viel interessanter als die Frage, wie aus dem Linken Hitler das werden konnte, was aus ihm geworden ist, erscheint demgegenüber die, wie aus dem Liberalen Hitler das werden konnte, was aus ihm geworden ist. Daß sein Vater ein mehr oder weniger typisches Mitglied des deutschliberalen kleinen Bürgertums der k.u.k. Monarchie war und Hitler in dessen Geist erzogen wurde, hat man noch nie mit Grund bezweifelt, sowenig wie die Berichte in „Mein Kampf“ über die Besuche des jungen Mannes im Reichsrat und sein Entsetzen über die Dysfunktion des Parlamentarismus unter multikulturellen Bedingungen.

Die Marienkirche zu Lübeck besitzt ein Fenster mit den Wappen der Vertreibungsgebiete, das man nach dem Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstörten Gebäudes eingefügt hat. Es diente ursprünglich der Erinnerung an die Heimat und an die zahllosen Opfer, die Flucht und Vertreibung forderten. Mittlerweile hat man natürlich alle „revanchistischen“ Hinweise getilgt und einen verschwiemelten Text über Frieden und Versöhnung aufgesetzt. Aber die Wappen der Vertreibungsgebiete sind in dem Fenster geblieben, und was die Sache so bemerkenswert macht: da stehen neben den Symbolen Ostdeutschlands und des Sudetengebietes auch die der Westpreußen, der Rußlanddeutschen und der Deutschbalten, die ihre Heimat nicht erst 1944ff., sondern schon 1919ff. verloren.

Bildungsbericht in loser Folge XXXXI: Die Schule ist „heute zu einer Art Dienstleistungseinrichtung geworden, in die Steuer zahlende Eltern ihre Kinder schicken, um das Abitur einzulösen: Es sind Betriebe mit der Aufgabe der standardisierten Veredelung des Humankapitals mit Erfolgsgarantie und Rückgaberecht. Der Erwerb des Abiturs ist unter dieser Bedingung nicht mehr in erster Linie Aufgabe und Herausforderung für den Schüler oder die Schülerin, sondern ausschließlich für die Lehrkraft. Jeder Abbrecher, jeder Sitzenbleiber, jeder Durchfaller bezeugt nicht auch Fehlleistungen oder unglückliche Umstände auf seiten der Schülerschaft, sondern wird stets allein als Versagen einer gleichgültigen und unfähigen Lehrerschaft interpretiert“ (Mathias Brodkorb, Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern, SPD).

Natürlich trägt sich der mediterrane Mensch im Sommer besser, während Nord- und Mitteleuropäer bei Hitze Mühe haben, Haltung zu bewahren. Da ist es eine kleine Genugtuung, wenn man um die Weihnachtszeit italienische Geschäftsleute aus der klimatisierten Halle des Flughafens Frankfurt kommen sieht, die erschrocken ob der Kälte ihre dünnen Mäntel um sich schlagen und hektisch zurückspringen, sobald der Schneematsch aufspritzt und ihr elegantes Schuhwerk bedroht.

Die Verteidigung der „Orientierungshilfe“ in Sachen Ehe und Familie durch den EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider macht die Sache keinen Deut besser. Denn sein Versuch, „Werte“ gegen „Institutionen“ auszuspielen, geht an der Sache vorbei, genauso übrigens wie die Verteidigung von Ehe und Familie unter Berufung auf die „Schöpfungsordnung“. Ehe und Familie sind keine Schöpfungsordnungen, denn ihre Stiftung erfolgte „postlapsarisch“, also nach dem Sündenfall, es handelt sich um „Erhaltungsordnungen“ (Dietrich Bonhoeffer), die nötig wurden, weil nicht nur das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, sondern auch das zwischen Mensch und Mensch in Unordnung geraten war. Das ist keine Kleinigkeit und sollte vor irgendwelchen Anbiederungen an den Zeitgeist genauso bewahren wie vor dem Vertrauen darauf, daß es die Natur schon richtet.

Bezeichnend, daß bei der Debatte über die gegen uns gerichteten Spionagemaßnahmen der USA die Bürgerrechte des Individuums im Mittelpunkt stehen, während die Souveränitätsrechte der Nation keine Rolle spielen.

Wichtiger als Deutungs- ist Umdeutungsmacht.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 2. August in der JF-Ausgabe 32/13.

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