© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Zwischen Haß und Lebensfreude
Reihe „Rußlands Außenpolitik“: Verwirrspiele im Kaukasus
Thomas Fasbender

Seit dem Boston-Attentat weiß jeder US-Amerikaner, daß Tschetschenen keine Tschechen sind. Die Brüder Tamerlan und Dschochar Tsarnajew haben den kaukasischen Extremismus als Teil des islamischen Dschihad ins globale Blickfeld gerückt. Das ist wohl der einzig positive Effekt der schrecklichen Tat – wurde doch Tschetschenien in den westlichen Medien überwiegend in der Rolle des friedliebenden Opfers russischer Aggression dargestellt.

Die Kaukasus-Region schreckt ab durch ihre ungeheure Komplexität. Rund fünfzig Völker siedeln in den Tälern zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer, wo zwei parallele Gebirgsriegel, höher und mächtiger als die Alpen, die europäische Tiefebene vom Mittleren Osten trennen.

Die Menschen dort sprechen an die vierzig eigenständige Sprachen, darunter das biblische Aramäisch oder Ubychisch mit über achtzig Konsonanten. Sie sind Moslems, Christen, Juden oder gehören Religionsgemeinschaften an, die seit Jahrhunderten in unzugänglichen Dörfern überdauern. Im Norden grenzt die Region an Kalmückien, Heimat des einzigen buddhistischen Volkes auf europäischem Territorium.

Zudem liegt das Gebirge am Schnittpunkt dreier aufstrebender Mächte: Rußland, Türkei und Iran. Es trennt Europa von den gewaltigen Energiereserven Zentralasiens. Künftige Pipelines sollen Gas vom Kaspischen Meer nach Westeuropa leiten. Geopolitisch ist die Region ein Pulverfaß.

Grob untergliedert, besteht die Region aus vier Teilen: Da ist einmal der zu Rußland gehörende Nordkaukasus, also die Nordhänge der über tausend Kilometer langen Gebirgskette des Großen Kaukasus, und im Süden die Länder Georgien, Armenien und Aserbaidschan.

Der Nordkaukasus ist ein kaum zu entflechtender Knoten aus moslemischen und christlichen Kleinvölkern, aufs engste verbunden in uraltem Haß oder uralter Brüderschaft. Unter diesen hat das zahlenmäßig stärkste Volk, die Tschetschenen, globale Prominenz erlangt. Es herrschen Verhältnisse, die wir archaisch nennen: Familienehre und autoritäre Clan-Strukturen bis zur Blutrache. Westliches individuelles Denken ist nicht einmal im Ansatz verbreitet. Gleichzeitig finden wir dort die gastfreundlichsten Menschen der Welt, fähig zu einem Maß an Lebensfreude, wie man es in Westeuropa vergebens sucht.

Rußland beherrscht den Nordkaukasus wider Willen als Teil der zaristischen Erbmasse. Es gibt kaum Ausbeutbares: Schafe und ein wenig Öl. Doch die Alternative, nämlich die lokalen Völker in irgendeine Form von Unabhängigkeit zu entlassen, ist aus Moskauer Sicht noch unerquicklicher.

Die russische Herrschaft in der Re-gion basiert auf dem Modell der einstigen englischen Kronkolonie Indien: Selbstregierung durch lokale Potentaten. Das beste Beispiel ist der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow, dem man Willkür, Unterschlagung und Nepotismus in Hülle und Fülle nachsagt. Sobald Wladimir Putin leise pfeift, läuft Kadyrow jedoch bei Fuß.

Nach zwei blutigen Tschetschenien-kriegen in den neunziger Jahren hat sich die politische Großwetterlage im Nordkaukasus zumindest vordergründig beruhigt. Die Angst vor Terroranschlägen in Moskau lebt fort, doch nur mehr auf dem Niveau von Städten wie London oder Paris.

Geostrategisch von Bedeutung sind dagegen die nach 1990 neuentstandenen Länder in der kaukasischen Kernregion.

Ein Spielball der großen Mächte ist Georgien, wo die US-amerikanische Regierung unter George W. Bush nach 2003 mit Hilfe des neuen Präsidenten Saakaschwili massiv versucht hat, einen Schwenk in Richtung Nato und EU zu stemmen. Die Ernüchterung nach dem Kaukasuskrieg 2008 zwischen Georgien und Rußland sowie der Amtsantritt von Barack Obama 2009 haben die Prioritäten schließlich auch in Washington neu definiert.

Seit 2012 hat Georgien einen Ministerpräsidenten, der versteht, daß Rußland näher liegt als die USA. Auch Saakaschwili, der noch bis zum Herbst als Präsident amtiert, hat begriffen, daß er zu hoch gepokert hat. Für die Falken im westlichen Lager, die Georgien schon als künftigen Brückenkopf des Westens betrachteten, ist die Wiederannäherung an Rußland ein herber Rückschlag. Ähnlich wie im Baltikum und in der Ukraine gewinnt der Kreml allmählich an Boden. Dem russischen Außenminister Lawrow ist zu verdanken, daß Moskau den Erfolg in keiner Weise öffentlich ausschlachtet.

Das aus politischer Sicht interessanteste Land in der Region ist Aserbaidschan, ein säkularer moslemischer Staat zwischen Rußland und dem sunnitischen Nordkaukasus und, im Süden, dem gottesstaatlich organisierten schiitischen Iran.

Seine Bedeutung gewinnt Aserbai-dschan als Schlüssel zu den kaspischen Öl- und Gasreserven. Seit Jahren ver-sucht der Westen, mit Hilfe einer Pipeline durch Georgien und Aserbaidschan das russische Transitmonopol beim Gasexport aus Zentralasien zu brechen. Rußland hält bislang dagegen. Ob die Projekte nun Nabucco und South Stream heißen – mit Argwohn verfolgt Moskau die westlichen Aktivitäten. Dabei fußt der Anspruch des Kreml auf einer Analogie zur amerikanischen Monroe-Doktrin. Spätestens seit Katharina II. betrachtet Rußland den Kaukasus als seinen Hinterhof, nicht viel anders als Washington die Karibik.

Armenien schließlich, eingekapselt zwischen seinen Erbfeinden Türkei und Aserbaidschan, besitzt die wenigsten Optionen. Der historisch erste christliche Staat der Welt, der sich einst über halb Anatolien erstreckte, existiert seit zwei Jahrhunderten unter der schützenden Hand Rußlands.

Schwelende Krisenherde wie Bergkarabach sind nur vorübergehend von den Titelseiten verschwunden. Wie sich das armenische Schicksal gestaltet, wenn erst die Mächte der Region, Türkei, Iran und Rußland, zu neuer Stärke und Rivalität erwachen, kann niemand vorhersagen.

Das Thema Kaukasus vereint Krisenherde und Potentiale völlig unterschiedlicher Qualität. Der russische Nordkaukasus besitzt in erster Linie innenpolitische Sprengkraft, wobei die dortigen Extremisten eng in das Netzwerk des globalen sunnitischen Terrors eingebunden sind.

 

Rußlands Außenpolitik Moskau und der Kaukasus

Einundzwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist es Zeit, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Was ist aus der Weltmacht geworden? Welche Interessen verfolgt Moskau? Wie ist das Verhältnis zu den Nachbarn? Teil eins der Reihe beschäftigte sich mit dem Verhältnis Rußlands zum Westen (JF 3/13). Es folgte das Baltikum (JF 19/13). Rußlands Beziehungen zur Ukraine/Weißrußland und dessen Politik in Zentralasien schließen die Reihe ab.

Foto: „Tag Rußlands“ vor der 2008 eröffneten Achmad-Kadyrow-Moschee in Grosny (12. 6. 2013): „Hoch lebe Putin! Hoch lebe Ramsan Kadyrow!“

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