© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Die Anpassungsbereitschaft schwindet
Regionale Identität im Elsaß: Gerade unter Jüngeren mehren sich zarte Anzeichen einer kulturpolitischen Kehrtwende
Martin Schmidt

Der am 29. Juli vergangenen Jahres verstorbene elsässische Schriftsteller André Weckmann formulierte im Nachwort seiner 1973 erschienenen „Geschichten aus Soranien“ Fragen an seine Landsleute, die ebenso heute gestellt werden könnten. „Ja, was wird nun aus unseren Soranern? Dösende Konsumschängele, die ihre Eigenart und ihre Sprache um der lieben Ruhe willen verschachern? Oder kleinkarierte Nabelanbeter? Oder selbstbewußte franko-alemannische Elsässer ohne Minderwertigkeitskompelexe und ohne Imponiergehabe?“

Das Elsaß gibt immer wieder Rätsel auf, ob man es nun durch die französische, die deutsche oder durch die Brille der Bewohner des zauberhaften Landes zwischen Vogesen und Rhein betrachtet. Am 7. April dieses Jahres (JF 16/13) gab es eine Volksabstimmung über eine Fusion der Départements Oberrhein (Haut-Rhin) und Niederrhein (Bas-Rhin). Doch die Entscheidung fiel gegen die administrative Wiederherstellung der Landeseinheit und deren Vertretung durch einen einzigen Regionalrat aus. Zwar votierten 57,65 Prozent für eine Beseitigung der bereits 1790 im Zuge der Französischen Revolution geschaffenen Départements und damit für eine Stärkung der elsässischen Stimme gegenüber Paris. Doch die laut Referendumsgesetz von 2010 in beiden Verwaltungseinheiten erforderliche Mehrheit wurde im Oberelsaß (Haut-Rhin) mit 44,26 Prozent verfehlt. Zudem stimmten weniger als die erforderlichen 25 Prozent mit Ja.

Man kann das Ergebnis mit den strengen, auf den Erhalt des Status quo bedachten zentralstaatlichen Referendumsvorgaben erklären. Vor allem aber drückt es die Scheu vor einer selbstbewußten Vertretung gesamtelsässischer Interessen aus. Die Elsässer mögen keine schnellen Veränderungen. Worin sich ihre ethnokulturelle Verwandtschaft mit den Nachbarn im Osten offenbart. Bei Wahlen wird hartnäckig die große bürgerlich-konservative UMP bevorzugt, und auch der Front National schneidet in dem Grenzland besonders gut ab – wegen nachvollziehbarer Probleme mit der Massenzuwanderung aus Nordafrika, aber auch, um sich als späte Reaktion auf das Trauma des Zweiten Weltkrieges als 150prozentige Franzosen zu zeigen. Schuldgefühle und Minderwertigkeitskomplexe sitzen tief. Gerade die Eliten und die gebildeten bürgerlichen Schichten sind nur allzu bereit, die häufig durchaus bewußten oder zumindest geahnten sprachlich-kulturellen Eigenheiten dem Zentralismus und Nationalismus der französischen Staatsmacht zu opfern.

Andererseits schwindet mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Jahr 1945 die totale Anpassungsbereitschaft, was insbesondere bei jüngeren Leuten regionalistische Gefühle nährt. Diese haben allerdings nur noch wenig mit dem Selbstverständnis des einstigen elsässischen Autonomismus zu tun. Kurz gesagt, verstanden sich dessen Träger als Deutsche französischer Staatsangehörigkeit, während man sich heute französisch definiert, nur eben mit einer besonderen sprachlich-kulturellen Prägung. Diese ist indes längst nicht mehr selbstverständlich. Bloß eine Minderheit von rund 40 Prozent der 1,8 Millionen Einwohner spricht nach wie vor die angestammten fränkischen beziehungsweise alemannischen Mundarten. Noch weniger verwenden sie im Alltag.

Ganze zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen nehmen an bilingualen Unterrichtsformen staatlicher oder privater Schulen teil. Deutschkenntnisse werden beim Baccalauréat (Abitur) in der mündlichen Prüfung durch auf deutsch gestellte Fragen getestet, die von den Schülern inzwischen angesichts des massiv gesunkenen Niveaus auf französisch beantwortet werden dürfen. Staatspräsident Hollande lehnt – entgegen früheren Versprechungen – die Ratifizierung der 1999 unterzeichneten Europarats-„Charta der Regional- und Minderheitensprachen“ ebenso wie sein Vorgänger ab und bekräftigt damit den kulturpolitischen Zentralismus der linken wie rechten Jakobiner, der im europäischen Vergleich kaum Parallelen hat.

Daß sich atmosphärisch dennoch einiges ändert, ließ sich am 31. März 2012 in Straßburg deutlich erkennen. Ungefähr tausend Menschen demonstrierten an diesem Tag – zeitgleich mit Regionalisten in der Bretagne, im französischen Teil des Baskenlandes und Kataloniens, in Okzitanien, Savoyen und Französisch-Flandern – für Zweisprachigkeit, sprich: für den Erhalt der deutschen Dialekte durch entsprechende gesetzliche Regelungen und den Ausbau der Regionalbefugnisse.

Angesichts des gemeinhin alles andere als rebellischen Naturells der Elsässer und der Tatsache, daß sich sämtliche etablierte Parteien nicht beteiligten (ganz anders als beispielsweise in der Bretagne), war dieser von der René-Schickele-Gesellschaft koordinierte Protestzug ein beachtlicher Erfolg. Angehörige der jüngeren und mittleren Generationen sowie zahlreiche Kinder beherrschten das Bild. Mehrere private zweisprachige ABCM-Schulen (Zweisprachigkeitsschulen) waren unter Leitung ihrer Lehrer mit größeren Gruppen vertreten. Auch viele junge Familien und Vertreter der Regionalistenpartei „Unser Land“ waren dabei (www.unserland.org).

Letztere gehören neben den derzeit neun ABCM-Schulen im Elsaß zu den dynamischsten Kräften der regionalen Selbstbesinnung. Bei den Kantonalwahlen 2011 war es dem jungen Unser-Land-Bewerber David Heckel sogar gelungen, in Sarreunion im Bündnis mit Sozialisten und Grünen das Direktmandat gegen den Kandidaten der UMP zu gewinnen. Eine Sensation, nachdem Vorgängerparteien wie die Elsässische Volksunion (UPA) jahrzehntelang selbst auf kommunaler Ebene mehr schlecht als recht dahindümpelten.

Auch die in die Jahre gekommene René-Schickele-Gesellschaft kümmert sich mit ihrer mittlerweile weitgehend französischsprachigen Zeitschrift Land un Sproch hartnäckig um Identitätspflege. Neuere Organisationen wie die „Gesellschaft der Freunde der zweisprachigen Kultur im Elsaß“ mit ihrem Vorsitzenden Pierre Klein leisten mit ihren bescheidenen Mitteln Schützenhilfe. Sogar manch finanziell erheblich besser ausgestattete staatliche Einrichtung zwischen Rhein und Vogesen hat sich ähnlichen Zielen verschrieben. Allen voran das Straßburger Amt für elsässische Sprache und Kultur (Office pour la Langue et la Culture d’Alsace; kurz: OLCA). Und auch Initiativen wie „Eltern Alsace“, ein Zusammenschluß von Eltern, deren Kinder an bilingualen Schulen unterrichtet werden, wirken auf eine kulturpolitische Kehrtwende hin.

Die heimische Post beschloß unlängst, daß ihre Mitarbeiter in der Lage sein sollen, an allen Schaltern auch im Dialekt mit den Kunden zu sprechen. Selbst Einzelpersonen setzen starke Akzente. So die „Miss France 2012“ Delphine Wespiser aus Niedermagstatt (Magstatt-le-Bas) im elsässischen Sundgau, die ihre Wahl im Dezember 2011 zu schlagzeilenträchtigen regionalistischen Bekenntnissen nutzte. Kurz nach ihrer von durchschnittlich rund acht Millionen Fernsehzuschauern verfolgten Kür äußerte sie den Wunsch, daß junge Leute ermutigt würden, sich für ihre Heimat und die „Regionalsprache“ – in ihrem Falle also das Elässerdeutsch – zu interessieren. Gegenüber dem anwesenden Großvater bedankte sie sich bei ihrer Wahl im bretonischen Brest auf elsässisch, und in einer anschließenden Pressekonferenz des Senders TF1 begrüßte sie die Journalisten demonstrativ im Dialekt.

Ebenfalls besonders öffentlichkeitswirksam ist die elsässische Liedermacherszene mit Protagonisten wie René Egles, Robert-Frank Jacobi, Roland Engel oder Isabelle Grussenmeyer und Musikverlagen wie „D’r Liederbrunne“. Hinzu kommen Liederfestivals, Dialekttheater und Kabaretts wie Germain Mullers weithin bekanntes „Barabli“ in Straßburg. Die 1979 in Hagenau geborene Sängerin Isabelle Grussenmeyer textete vor ein paar Jahren ein Lied mit dem Titel „Warum?“, das auf sympathische Weise das unverkrampfte sprachpolitische Credo des jungen elsässischen Regionalismus ausdrückt:

 

„Elsassisch, des isch mini Muedersproch,

An ihre henk ich ganz mit Hüt un Hoor,

Franzöesch und Englisch singe alli Lit,

Ohne ze wisse was es als beditt!

Un ich hab sie dann g‘fröjt: warum?

Sin ihr nit stolz uf des Richtum?

Des isch doch uns´re Dialekt,

Mir müen ‘ne ehre mit Reschpekt!“

www.unserland.org/

www.ajfe.fr

www.blog.unsri-heimet.eu

 

Land zwischen zwei Nationen

870

Das Elsaß wird dem ostfränkischen Reich zugeschlagen, dem späteren Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

1354

Die zehn elsässischen Reichsstädte Colmar, Hagenau, Kaisersberg, Mülhausen, Münster, Oberehnheim, Rosheim, Schlettstadt, Türkheim und Weißenburg schließen sich zum Zehnstädtebund zusammen.

1523

Straßburg wird protestantisch. Andere Städte folgen.

1648/1681

Im Westfälischen Frieden müssen die Habsburger ihre elsässischen Besitzungen an Frankreich abtreten. Vierzig Jahre später läßt Frankreichs König Ludwig XIV. Straßburg besetzen. An der Universität wird weiterhin auf deutsch gelehrt.

1789

Nach der Französischen Revolution wird die Provinz Elsaß aufgelöst und die beiden Départements Haut-Rhin und Bas-Rhin gebildet. Das Elsaß wird zunehmend französisiert.

1871

Im Frankfurter Frieden muß Frankreich das Elsaß an das Deutsche Reich abtreten. Etwa 120.000 Personen – meist Beamte – verlassen gemäß der Optionsklausel das Land in Richtung Frankreich. Die Französisierung ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß zunächst nur 20 Prozent der Elsässer den Neuerungen von 1871 gegenüber aufgeschlossen sind. Das neue Reichsland Elsaß-Lothringen wird nach dem Vorbild einer preußischen Provinz verwaltet.

1911

Das Reichsland erhält ein neues Statut, das dem Selbstbewußtsein der angestammten Bevölkerung entgegenkommen soll. Elsaß-Lothringen wird deutscher Bundesstaat. Souverän bleibt der Kaiser. Die Akzeptanz der Eingliederung in das Deutsche Reich ist bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs stetig gewachsen. Bei den Reichstagswahlen 1911 erhalten die Frankophilen nur 2,1 Prozent; nur 11 Prozent der Elsässer geben Französisch als Muttersprache an.

1919

Mit dem Vertrag von Versailles fällt das Elsaß – ohne Volksabstimmung – wieder an Frankreich. 150.000 Personen werden aus ihrer elsässischen Heimat ausgewiesen. Dies betrifft alle, die unter die „Kategorie D“ (kein Elternteil in Elsaß-Lothringen geboren) fallen. Sie werden enteignet und müssen mit maximal 30 Kilogramm Gepäck das Land verlassen. Die durch die Vertreibung der deutschen Beamten frei gewordenen Stellen werden mit sogenannten Revenants (Rückkehrern) und (Alt-)Franzosen besetzt.

1926

Als Reaktion auf den Zentralismus der französischen Regierung fordern Heimatbund und die Elsässische Republikanische Volkspartei die Autonomie des Elsaß. Im August kommt es zum Blutigen Sonntag von Colmar, als französische Nationalisten unter den Augen der Gendarmerie eine autonomistische Versammlung stürmen. Später werden führende Autonomisten wegen Verschwörung verurteilt.

1940–1945

Mehrere elsässische Politiker werden wegen ihres Eintretens für die Autonomie verhaftet, ihr Anführer Karl Roos wird in Nancy wegen angeblicher Spionage hingerichtet. Nach der Niederlage Frankreichs bekommt das Elsaß wieder eine Zivilverwaltung. Straßburgs Universität wird 1941 Reichsuniversität. Völkerrechtlich bleibt das Elsaß jedoch französisch. Ab 1942 werden entgegen vorheriger Zusagen auch Elsässer zur Wehrmacht und Waffen-SS eingezogen. Ende 1944 beginnt der Einmarsch der Alliierten, 1945 ist das Elsaß wieder unter französischer Verwaltung.

1945 bis heute

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird die französische Sprachpolitik fortgesetzt und verschärft. Elsässisch ist offiziell verpönt. Erst seit Ende der sechziger Jahre findet ein Umdenken statt. Derzeit spricht noch ein Drittel Elsässisch.

Noch heute bestehen Besonderheiten aus der Zeit des Reichslandes fort. Anders als in Frankreich bleiben Karfreitag und zweiter Weihnachtstag Feiertage. Es wird Kirchensteuer erhoben, und es gibt Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. An der Universität Straßburg existieren staatliche Theologische Fakultäten. Auch das Jagdrecht entspricht dem deutschen mehr als dem französischen Recht.

Foto: Für die Zweisprachigkeit auf der Straße: Elsässer Regionalisten demonstrierten im März 2012 in Straßburg für den Erhalt der deutschen Dialekte

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen