© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Kaum einer wurde zur Rechenschaft gezogen
Eine ehemalige Insassin erforscht Opfer- und Täterwelten des DDR-Frauengefängnisses Hoheneck
Ekkehard Schultz

Zu den tragischsten Einschnitten im Leben eines Menschen zählt es, wenn er erfahren muß, über Jahre hinweg von Personen aus dem engsten Verwandtenkreis betrogen und hintergangen worden zu sein. Um so stärker und nachhaltiger ist die Enttäuschung, wenn ein solcher Vertrauensbruch durch den Ehepartner ausgerechnet gegenüber den staatlichen Organen in einer Diktatur erfolgte.

Auch die seit 1976 in Köln lebende Ellen Thiemann teilt ein solches Schicksal. 1999 deckte der Spiegel auf, daß der Ex-Ehemann der gebürtigen Dresdnerin einer der größten Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) unter den DDR-Sportjournalisten war – eine Tatsache, die sich wenig später auch beim persönlichen Einblick in die Akten bestätigte. Höchstwahrscheinlich verriet ihr Partner auch die gemeinsam geplante und gescheiterte Flucht in den Westen, wegen der Thiemann zweieinhalb Jahre im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck zubringen mußte und dort drastischen Strafmaßnahmen wie Folter, Schlafentzug, stundenlangen Verhören und Zwangsarbeit ausgesetzt war. Schließlich gelangte sie per Freikauf in die Bundesrepublik, wo sie sich wiederum als Journalistin betätigte.

Seither haben die Autorin insbesondere die Hohenecker Erlebnisse immer wieder beschäftigt. Nach ihrem Erstlingswerk „Stell dich mit den Schergen gut" von 1984, das inzwischen in mehreren Auflagen erschien, und „Der Feind an meiner Seite" von 2011 liegt mit „Wo sind die Toten von Hoheneck?" nunmehr ihr drittes Buch vor. Wiederum liegt dabei der Schwerpunkt auf der persönlichen Vergangenheit und dem Umgang mit dieser Last. Und erneut greift Thiemann dabei auf bislang noch nicht ausgewertetes Material aus den MfS-Akten zurück.

Stasi-Funktionsträger sind im Staatsdienst geblieben

Inhaltlich geht es jedoch keineswegs nur um die mittlerweile doch recht gut bekannten Details zum dortigen Zuchthausalltag und die Abwertung der politischen Häftlinge als gewöhnliche Kriminelle. Thiemann fragt ebenso nach dem Verbleib der ehemaligen Funktionsträger in den Anstalten, die zumeist sowohl der SED als auch dem MfS dienten. Dabei stellt sie fest, wie viele Vernehmer, Beurteiler, Ärzte und Wächter es mittlerweile geschafft haben, in den Staatsdienst der Bundesrepublik übernommen zu werden – insbesondere bei Polizei und Justiz.

Interessant sind zudem die Ausführungen der Autorin über die fortgesetzte Bespitzelung im Westen und die Helfer, die dem MfS auch dort zur Seite standen. Auch sie wurden nur in wenigen Fällen nach der deutschen Wiedervereinigung zur Rechenschaft gezogen. Viele verklären ihre Tätigkeit für eine Diktatur bis heute, nicht wenige engagieren sich auch weiterhin im politischen Linksaußen der Gesellschaft. Nicht nur hier schätzt Thiemann die juristische Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Deutschland als „reine Farce" ein.

Das eigentliche Kernstück des Buches stellt jedoch – gemäß dem Titel – die Frage nach den verschwiegenen Selbsttötungen von Inhaftierten in Hoheneck dar. Bereits in dem Buch „Medizin hinter Gittern" über das MfS-Haftkrankenhaus in Berlin-Hohenschönhausen von 2012 wurde dokumentiert, wie einerseits dringend notwendige Behandlungen von politischen Häftlingen bewußt unterlassen wurden. Andererseits ist die mißbräuchliche Anwendung von Psychopharmaka ebenso bekannt wie die Erprobung von Medikamenten ohne jede Einwilligung. Hier fordert Thiemann eine genauere Untersuchung der Fälle, in denen die Konsequenzen besonders gravierend waren.

Gleichwohl darf nicht verschwiegen werden, daß das Buch nicht unwesentliche Mängel aufweist. Generell bemüht sich die Autorin darum, möglichst viele Themen auf wenigen Seiten zu behandeln. Eine Folge davon ist, daß es häufig nicht leicht fällt, dem eigentlichen roten Faden zu folgen. Denn allzu schnell springt Thiemann vom Haftalltag zu Zwangsadoptionen, dem Umgang mit „Republikflüchtigen" und Ärzten im Dienste des MfS zu persönlichen Einzelschicksalen und wieder zurück. Dies führt leider oft auch dazu, daß die einzelnen Punkte eher oberflächlich abgehandelt werden.

Sehr streng geht Thiemann mit der ehemaligen DDR-Bürgerrechtsbewegung ins Gericht. Hier schließt sie sich Wolfgang Welsch an, der diese Gruppe lediglich als „Reformsozialisten" bezeichnet und ihnen einen oppositionellen Charakter generell abspricht. Dies dürfte zweifellos insbesondere bei einem größeren Teil der Opfer aus den frühen DDR-Jahrzehnten auf Zustimmung stoßen. Andererseits wurde längst nachgewiesen, daß die Formen des Widerstandes in der Diktatur allgemein sehr verschiedenartig sind und deswegen stets in der Gesamtheit betrachtet werden sollten. Zudem tragen die bis heute nicht überwundenen Differenzen zwischen den Opfern der kommunistischen Diktatur nicht gerade zur Stärkung ihrer politischen und gesellschaftlichen Position bei, sondern erleichtern DDR-Apologeten oder Linksparteipolitikern vielmehr das gegenseitige Ausspielen.

Dagegen wird man der Warnung der Autorin vor übertriebenen Schilderungen von Betroffenen, da diese die Anliegen aller Kommunismus-Opfer unglaubwürdig machen, vollständig zustimmen können. So erscheint die Kritik an „Selbstdarstellerinnen (...) die jedem Reporter andere Details" erzählen, allemal berechtigt. Auf der anderen Seite steht freilich die grundsätzliche Empathie der Autorin mit den Opfern, die insbesondere beim Verweis auf die physischen und psychischen Spätfolgen von Haft und Verfolgung immer wieder im Buch zum Ausdruck kommt.

Insgesamt liegt somit ein gut lesbares wie auch emotional berührendes Werk vor, das auch Einsteigern in die Materie empfohlen werden kann. Wer freilich noch stärker einzelne Teilbereiche vertiefend betrachten oder sich mit den eigentlichen Ursachen für das kommunistische Unrecht beschäftigen möchte, wird wahrscheinlich doch eher zur Spezialliteratur greifen.

Ellen Thiemann im Zellentrakt des DDR-Frauenzuchthauses Hoheneck: Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit ist reine Farce

Ellen Thiemann: Wo sind die Toten von Hoheneck? Neue Enthüllungen über das berüchtigte Frauenzuchthaus der DDR. Herbig Verlag, München 2013, gebunden, 272 Seiten, Abbildungen, 19,99 Euro

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