© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Streit unter Altlinken
Demokratie, Kapitalismus, Nationalstaat, Europa: Die beiden Soziologen Jürgen Habermas und Wolfgang Streeck liegen schwer über Kreuz
Björn Schumacher

In Wirtschaftskrisen klingt die These „Geld regiert die Welt" geradezu bedrohlich. Dem Sozialwissenschaftler, der sie entschärfen will, öffnen sich zwei Wege, die indes mit einem erkenntnistheoretischen Manko behaftet sind. Beide gründen maßgebend auf spekulativer Geschichtsmetaphysik.

Der eine, evolutionäre und eher idealistische Weg weist in eine Welt, in der die Finanzwirtschaft langsam an Bedeutung verliert. Beleg ist die Systemtheorie, deren deutscher Protagonist Niklas Luhmann (1927–1998) darüber sinnierte, wann das herrschende „Subsystem Wirtschaft" durch eine Regentschaft des „Subsystems Wissenschaft" abgelöst werde. Jedoch erwies sich schon Platos Sehnsucht nach dem von einem Philosophenkönig regierten Staat als wirklichkeitsfremd; und wenig deutet darauf hin, daß die „Wissenschaftskönige" der Systemtheorie die Weltherrschaft an sich reißen könnten.

Glückseligkeit nach dem Klassenkampf

Der andere, revolutionäre und materialistische Weg tröstet Kapitalismusverlierer, indem er ihnen nach einem „Klassenkampf" Glückseligkeit in der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus verheißt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen", prophezeite Karl Marx 1875 in der „Kritik des Gothaer Programms". Den spekulativen Charakter seines Historischen Materialismus unterstreicht die von Puristen beschworene These, der Klassenkampf gehe weiter, auch wenn er in den demokratischen Sozial- beziehungsweise Wohlfahrtsstaaten des Westens − wie lange noch? − suspendiert sei.

Wer angesichts aktueller Entwicklungen der Finanzwirtschaft „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" assoziiert, liegt nicht ganz falsch. In einer Schrift gleichen Titels hatte Jürgen Habermas 1973 ein keineswegs nur spekulatives Krisenszenario „spätkapitalisti-scher" Produktions- und Verteilungsformen entworfen. Diese seien − anders als im „Frühkapitalismus" des 19. Jahrhunderts − durch massive Verflechtungen von Kapital und Staat sowie die strukturelle Entpolitisierung einer karriere-, freizeit- und konsumorientierten Öffentlichkeit gekennzeichnet. Der Legitimationsbedarf im Spätkapitalismus, so Habermas, werde auch durch eine „wohlfahrtsstaatliche Ersatzprogrammatik" befriedigt.

Streeck: Demokratie verliert Basis ihrer Existenz

Daran anknüpfend beschreibt Wolfgang Streeck, Jahrgang 1946, Direktor am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, die „neoliberale Transformation des Nachkriegskapitalismus" („Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus", 2013). Der sogenannte Spätkapitalismus habe seit den 1970er Jahren zu einer ungeheuren Expansion der Produktions- und Konsumverhältnisse und in der Konsequenz zu schleichender Inflation, Staats- und Privatverschuldung geführt. Vorläufiger Höhepunkt sei die internationale Banken- und Fiskalkrise.

Streecks Augenmerk gilt dem Niedergang des prosperierenden Steuerstaats der sechziger und siebziger Jahre bis hin zum kreditfinanzierten Schuldenstaat der Gegenwart. Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes, allen voran die Demokratie, verlören in diesem unheilvollen Prozeß die faktische Basis ihrer normativen Existenz.

Streeck wird hier zum Bundesgenossen bürgerlich-konservativer Kritiker ausufernder Sozialetats. Seine Medizin dürfte linken Internationalisten ebenso übel aufstoßen wie EU-beflissenen Lobbyisten aus den etablierten Parteien. Zur Kontrolle über aus dem Ruder gelaufene Märkte empfiehlt er unter anderem eine Neubelebung „verbliebener Reste des Nationalstaats".

Kritik kam prompt. Thomas Steinfeld, Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, warf Streeck „kalkulierte Folgenlosigkeit" vor. Tatsächlich liefert dieser weder fertige Pläne zur Krisenbewältigung noch eine ausgearbeitete Theorie des Nationalstaats. Aber was darf redlicherweise von ihm erwartet werden? Im methodologischen Ansatz ist Streeck ein Vertreter empirischer Sozialwissenschaften und kein Ökonom oder Jurist. Seine Kritik am Wandel des primär beitragsgestützten Sozial(versicherungs)staats zum siechenden Wohlfahrts- beziehungsweise Umverteilungsstaat, seine Vorbehalte gegen hastig geschnürte Pakete zur „Euro-Rettung", seine Warnung vor krassen Demokratieverlusten durch eine Unterwerfung der Politik unter die Finanzmärkte und seine behutsame Annäherung an die Nationalstaatsidee verdienen entschiedene Zustimmung.

Habermas: EU braucht demokratische Vertiefung

Ein anderes Modell vertritt Jürgen Habermas. In einer ausholenden Replik auf Streeck bleibt der inzwischen 84jährige Philosoph seinem nationalstaatsskeptischen Kurs treu, auch wenn er − altersmilde? − gewisse Sympathien für konservative „Wutausbrüche der Straße" und die Parteigründung Alternative für Deutschland erkennen läßt (Blätter für deutsche und internationale Politik, Mai 2013). Bürgernähe verknüpft Habermas mit der Europäischen Union. Seine Forderung nach deren „demokratischer Vertiefung" entspricht Redeformen der bundesdeutschen Nomenklatura. Proeuropäische Parteien, so Habermas, sollten in enger Kooperation den „offensiven Ausbau der Währungsgemeinschaft zu einer supranationalen Demokratie" vorantreiben.

Vertiefen läßt sich freilich nur Vorhandenes. Habermas unterstellt, daß sich Grundelemente supranationaler Demokratie in der real existierenden EU nachweisen lassen. Wer aber soll deren Souverän sein? Gibt es oberhalb der nationalstaatlichen Ebene einen Demos im vor- beziehungsweise vernunftrechtlichen Sinne?

Spaltpilz Euro blockiert das Zusammenwachsen

Wer Volk oder Nation in der Tradition politischer Aufklärung als Sprach- und Schicksalsgemeinschaft begreift, muß Habermas spontan widersprechen. Solche Gemeinschaften wollen ihre Aufgaben in einem freien Prozeß öffentlicher Meinungsbildung beraten und per Mehrheitsentscheid regeln. Auf EU-Ebene fehlen fast alle Voraussetzungen dafür. Jenseits politmedialer Eliten verstehen sich daher wenige Europäer als supranationale Gemeinschaft. Vielsprachigkeit, kulturelle Divergenzen sowie der „Spaltpilz" Euro blockieren das Zusammenwachsen zusätzlich. Wer dennoch einen supranationalen Staat fordert, plädiert de facto für die Preisgabe der Demokratie zugunsten einer postdemokratischen, letztlich diktatorischen Zukunft.

Daran ändern auch Habermas’ wiederholte Hinweise auf die „europäische Zivilgesellschaft" kaum etwas. Der Begriff mag sinnvoll die europaweite Akzeptanz von Menschenrechten und anderen Prinzipien des Rechtsstaates beschreiben. Zu einem Demos gehört freilich mehr; und es erstaunt, daß ein Pionier der Kommunikationstheorie wie Habermas das nicht angemessen analysiert.

Mit Karl Marx verbindet sich, bei aller Kritik am Historischen Materialismus, ein glanzvolles Beispiel dialektischer Geschichtsdeutung: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce."

Stimmt genau: Die sozialistische Sowjetunion war eine furchtbare Tragödie. Der pseudosozialistische Umverteilungsverbund EU entpuppt sich mehr und mehr als „lumpige Farce".

Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp, 2013, gebunden, 271 Seiten, 24,95 Euro

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