© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Wo die Zeit bleibt
Beschleunigung: Der Fortschrittsglaube entfremdet den Menschen von der Wirklichkeit
Erik Lehnert

Vor einigen Wochen führte die Ankündigung der Telekom, die Geschwindigkeit der Datenübertragung von Internetanschlüssen drosseln zu wollen, zu heftigen Auseinandersetzungen, die bis heute anhalten. Wenn man der Telekom glauben will, ist deren Kalkulation von der Annahme bestimmt, daß für den Durchschnittsnutzer eine geringere Geschwindigkeit ausreichend ist und sie alles darüber hinaus für Luxus hält, der extra kostet.

Das kann man mit guten Gründen für Geldschneiderei halten. Die Reaktionen gehen aber weit darüber hinaus. Kritiker sehen in der Haltung der Telekom so etwas wie den Abfall vom Fortschrittsglauben. Schnelles Netz ist zu einem Wachstums- und damit Heilsversprechen geworden. Wer es verhindert, kann sich in eine Reihe mit den Ewiggestrigen stellen.

Dahinter steckt nicht nur die Gewöhnung an eine bestimmte Geschwindigkeit, sondern die Erwartung, daß eine zunehmende Beschleunigung von Vorgängen, die Zeit kosten, es uns ermöglicht, Zeit zu gewinnen, die wir dann gewinnbringend einsetzen können. Die Vermutung geht dahin, daß wir durch dieses mehr an Zeit nicht nur kreativer, sondern auch moralisch besser werden – einfach weil wir mehr Zeit für Selbstreflexion haben. Der Preis ist die Unterordnung unter die Beschleunigung.

Die Einsicht, daß die zunehmende Geschwindigkeit vor allem negative Folgen hat, gehört zum klassischen Arsenal der Kulturkritik. Bereits Nietzsche sah unsere Zivilisation durch den „Mangel an Ruhe" in einer „neuen Barbarei" enden. Daß die Beschleunigung ihre Versprechen nicht einlösen konnte, machte dann die durchgreifende Motorisierung seit den dreißiger Jahren deutlich. Gerhard Nebel fragte sich damals, „wo denn die Zeit bleibt, die gewonnen wird; sie ist nirgends aufzufinden, und am besten ist vielleicht noch die Antwort, daß man sie verbringt, indem man Geschwindigkeitsmittel herstellt und neue ausdenkt".

Ein Kreislauf, dem nicht zu entkommen ist. Ernst Jünger bemerkte schließlich seit dem Ersten Weltkrieg eine Steigerung von Beschleunigung in einem Maße, „das den Strom der Zeit und ihres Geschehens zuweilen als Katarakt erscheinen läßt, der die Schiffe weniger trägt als mitreißt und bedroht". Diese Klage läßt sich bis in unsere Zeit verfolgen, wenn der Ruf nach Entschleunigung und Langsamkeit ertönt.

Die Kritik an der Beschleunigung hat sich mittlerweile auch den Weg in die Kritische Theorie, zu den Enkeln der Frankfurter Schule gebahnt. Einer von ihnen, der Soziologe Hartmut Rosa, hat darin sein Lebensthema gefunden und publiziert seit bald einem Jahrzehnt Bücher, die eine entsprechende These variieren. Rosa ist der Auffassung, daß sich unser Leben nur über den Zeitaspekt erschöpfend analysieren läßt.

Dahinter steckt die Vermutung, daß wir uns heute als frei empfinden, weil uns niemand mittels ethischer Normen sanktioniert, wir in Wirklichkeit aber unfrei sind, weil wir durch ein „engmaschiges und striktes Zeitregime reguliert, koordiniert und beherrscht" und schließlich „unterdrückt" werden. Die Analyse dieses Verhältnisses solle mittels der „Logik sozialer Beschleunigung", die zur „Negation des guten Lebens" führe, möglich sein. Rosa stellt sich damit in eine Reihe mit Habermas und Honneth, die den Menschen durch Kommunikationsverhältnisse und Anerkennungsstrukturen korrumpiert sehen.

In der Beschreibung der Symptome nutzt Rosa die Einsichten der konservativen Kulturkritik, ohne darauf explizit zu verweisen. Beschleunigung führt dazu, daß die Welt kleiner wird und das Leben sich schneller zu bewegen scheint. Die Dinge haben keine Dauer mehr, alles ist für den Moment gedacht und kann im nächsten ungültig und wertlos sein. Der Wechsel von Verbindlichkeiten führt zur allgemeinen Unverbindlichkeit. Wir wollen möglichst viele Optionen realisieren, hinken aber den Möglichkeiten hinterher.

Problematisch wird es, wenn daraus die schlichte Konsequenz gezogen wird, daß Beschleunigung zu sozialem Wandel führe, der uns zunehmend unfrei mache. Für Rosa steht fest, daß nicht mehr der moderne Staat der Leviathan ist, sondern die Beschleunigung, die uns als totalitärer Unterwerfer gegenübertritt. Jeglicher Rückzug beziehungsweise Konservatismus läßt sich dann als private Marotte abtun, welche die Ursachen der eigenen Unfreiheit nicht wahrhaben will.

Wo die Kritische Theorie endet, weil sie auf dieses Problem keine Antwort mehr geben kann, beginnt die konservative Kulturkritik. Beschleunigung ist keine Ursache, sondern die Folge von etwas. Sie kann also nicht der Leviathan sein, wenn das Wort noch etwas bedeuten soll. Sie folgt aus unserem falschen Natur- und Technikverständnis. Weil wir uns selbst als Mechanismen begreifen, gestehen wir der Geschwindigkeit diese metaphysisch überhöhte Rolle zu.

Wir haben vergessen, daß der Mensch etwas anderes als eine technische Hervorbringung ist. Wir messen uns mit Maschinen. Deshalb ist die gewonnene Zeit für die meisten nicht nutzbar, weil die Maschine weiterlaufen muß. Nicht Muße folgt daraus, sondern Langeweile: „die meisten, die ein Mehr an Zeit gewonnen haben, tun nichts anderes, als es totzuschlagen", so Friedrich
Georg Jünger.

Es kommt daher auf den einzelnen an, wie er sich zur Beschleunigung verhält. Diese betrifft zwar immer mehr Menschen, doch die wirklich bedrohlichen und qualitativ neuen Entwicklungen liegen darin, „daß sich die Spezies sowohl an sich als auch im Verhältnis der Geschlechter offensichtlich zu verändern beginnt" (Ernst Jünger). In einer Weise, für die es keine historischen Vorläufer gibt. Daß Beschleunigung die Ursache dafür ist, wird niemand ernsthaft behaupten. Vorher müßte der Beweis erbracht werden, daß sich Beschleunigung und gutes Leben wirklich ausschließen, wenn man darunter ein dem Menschen angemessenes Leben versteht.

Wer ein nüchternes Verhältnis zur Technik hat, dürfte auch von der Beschleunigung kein Heil erwarten. Es ist der Fortschrittsglaube, der den Menschen der Wirklichkeit entfremdet, indem er den Menschen zu einem vollendbaren Wesen erklärt. Die Beschleunigung ist nur ein Aspekt dieses Glaubens. Sie macht den Verlust von Gewißheiten, von Orientierungsmöglichkeiten im Strom der Zeit nur besonders offensichtlich.

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