© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Pankraz,
G. Le Bon und die hysterische Politik

Winston Churchill, der historische britische Premierminister und illusionslose, oft zynische Machtmensch, befragt, was er denn von massenhaften politischen Straßendemonstrationen halte, antwortete: „Sie sind wie Hautausschlag. Sie machen häßlich, sie jucken, aber man kratzt sich stets an den falschen Stellen." Über die Treffsicherheit dieser Einschätzung kann sich der deutsche Konsument von Fernsehnachrichten seit geraumer Zeit fast jeden Abend selbst überzeugen; es ist freilich keine angenehme Prozedur.

Dauernd sieht er sich mit geballten Menschenmassen konfrontiert, die ihn unartikuliert anbrüllen und dabei drohend die Fäuste ballen. Fahnenschwenken, Knallkörper, zehntausendfaches Herumstehen bei engster, schwitzender Tuchfühlung – das, so erfährt der Zuschauer, sei eben Politik, echte Politik, gar echte demokratische Politik. Das Ganze ist sehr häßlich, man kann richtig spüren, wie es den Beteiligten auf der Haut juckt. Viele kratzen sich, aber es passiert faktisch nichts. Alles dreht sich im Kreise.

Sogar prominenten linken Parolenausgebern fällt das allmählich auf, so etwa dem spanischen Schriftsteller und Altmarxisten Rafael Chirbes, der der Zeitung El Pais angesichts der ewigen Großdemos kürzlich seufzend ins Telefon diktierte: „Soviel unvermittelte Empörung finde ich verdächtig (...) Was mir fehlt, sind Werte. Wofür protestieren die eigentlich? Doch es gibt schon Fernsehserien über die Protestszene und die Leute, die sich darin eingerichtet haben. Fast muß man sich schuldig fühlen, wenn man seine Wohnung und seine Arbeit nicht verloren hat. Da kommt dann schnell der Vorwurf des Kollaborateurs mit dem System."

Man kann das auch so ausdrücken: Die neuartige „Demo-Kultur", das tausendfache Herumstehen, Herumbrüllen und Herumfuchteln auf großen öffentlichen Plätzen ist dabei, jeden Kontakt zu realer Politik zu verlieren, zum Selbstzweck zu werden, zum Event an sich. Mit Demokratie hat dergleichen nichts mehr zu tun, wie gerade das Beispiel Ägyptens beweist. Dort wurde ein zweifellos von einer deutlichen Mehrheit gewählter Präsident vom Militär gestürzt – ein simpler Militärputsch, wie einst in Rußland der Putsch Lenins und Trotzkis gegen die verfassunggebende Versammlung. Wo war da Demokratie?

Große Menschenansammlungen folgen, wie schon der eminente französische Psychologe Gustave Le Bon (1841–1931) gelehrt hat, ganz eigenen, „massenpsychologischen" Regeln, sie sind von Haus aus zerstörerisch und selbstzerstörerisch, besonders wenn sie sich auf weiten öffentlichen Plätzen zusammenballen, wo man scheinbar auf nichts Privates mehr Rücksicht zu nehmen braucht. Sie setzen schlechte Instinkte frei, die sich entladen wollen. Nicht das Wort, sondern die nötigende Aktion ist die heimliche Sehnsucht der politisierten Masse. Es soll „etwas passieren", am liebsten möchte man Blut sehen.

Jedem politisch Denkenden ist selbstverständlich klar: Gänzlich vermeiden lassen sich massenhafte Straßendemos nicht. In harten Diktaturen sind sie fast die einzige Möglichkeit, eine abweichende Meinung öffentlich zu artikulieren und die Herrschenden zu Zugeständnissen zu zwingen. Für Parlamente und halbwegs demokratisch bestallte Politiker können sie Indikatoren für die Annahme oder Ablehnung von neuen Gesetzen oder Regierungsentscheidungen durch das Volk sein. Dennoch: Wer an ihnen teilhat, reitet immer den Tiger und bringt Demokratie und Rechtsstaat in Gefahr.

Erfolgreiche, gloriose und in jeder Hinsicht akzeptable Massendemos sind sehr selten. Die berühmten Massendemonstrationen von 1989 auf den Plätzen und Straßen von Leipzig und Dresden, die zur deutschen Wiedervereinigung führten, gehören dazu. Unvergeßlich und heute noch die Seelen bewegend die wunderbare Friedfertigkeit und Disziplin dieser entscheidenden Demonstrationen, ihre Gutgelauntheit und Gutmütigkeit. Nirgendwo ein Abgleiten in grausame Massenpsychose, nirgendwo Blut, Funktionärs-demütigung, Rachegeschrei, überall nur Entschlossenheit, Kerzen, Bitt- und Dankgebete.

Es war eine welthistorische Ausnahme, vergleichbar allenfalls mit jener glorious revolution im England des Jahres 1688, aus der Wilhelm von Oranien als neuer König des Landes hervorging. Auch diese erste „gloriose Revolution" vollzog sich sowohl in London als auch in der Provinz ganz unblutig, man grenzte sich ausdrücklich vom Fanatismus der voraufgegangenen puritan revolution à la Cromwell ab, schuf einen Ausgleich zwischen den Parteien und ließ die Umzüge in ein großes Versöhnungsfest einmünden.

Ausgedehnte öffentliche Massendemos, so lehren die Vorgänge von 1688 und 1989, sind nur dann erträglich, wenn ihnen vorher von klugen und maßvollen Leuten gewissermaßen die Reißzähne gezogen oder abgeschliffen worden sind. Keine Rede kann davon sein, daß sie – wie sich das einige Träumer von der Occupy-Bewegung allen Ernstes vorstellen – von sich aus über ein „humanes, demokratisches Schwarmbewußtsein" verfügten und daß es also nur darauf ankomme, mögliche Anführer vom Schwarm fernzuhalten, damit alles friedlich und konstruktiv verlaufe.

Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Denn Gustave Le Bon hatte recht: Politische Massenansammlungen haben ihre eigenen Regeln, und die sind kulturlos und von Natur aus hysterisch. Sind sie einmal in Schwung gekommen, hören sie nur noch auf hetzerische Demagogen, die die Situation immer nur weiter aufheizen und eventuell bis zur explosiven Weißglut vorantreiben. Pankraz ist keine historische Großdemo bekannt, wo es einem Redner gelang, die Gemüter abzukühlen und die Brüller und Fäusteballer nach Hause zu schicken.

Wie formulierte einst der Politpraktiker Winston Churchill? „Demonstration und Regierung schließen sich gegenseitig aus. Die Regierung ist derjenige Punkt, wo die Demonstration ankommt, vorausgesetzt, daß die Polizei sie nahe genug heranläßt."

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