© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Grenzenlose Heimatliebe
Besuch bei den Deutschen in Oberschlesien: Hoffen und Bangen um die Zukunft
Paul Leonhard

Die Giebel zieren gemauerte Kreuze. An beinahe jedem bewohnten Haus findet sich eine Marienstatue. Oberschlesien ist ein zutiefst katholisches Land. Die Sonntagsmesse ist Pflicht, für Polen wie alteingesessene Deutsche. Weil sie Katholiken sind, durften manche auch bleiben, als die polnischen Nationalisten unter dem Schutz sowjetischer Bajonette ihren lang gehegten Traum eines national homogenen, von Minderheiten freien Polens 1945 umzusetzen begannen.

Im Gegensatz zu den Niederschlesiern galten die deutschen Oberschlesier als repolonisierungsfähig. Hatte nicht in Himmelwitz, Groß Stein, Raschau oder Nakel beziehungsweise Jemielnica, Kamień Śląski, Raszowa und Nakło eine Mehrheit der Einwohner bei der Volksbefragung von 1921 gegen den Verbleib beim Deutschen Reich und für Polen gestimmt? In den Dörfern um Oppeln hatten immer Oberschlesier gelebt, deren Herz für Deutschland oder Polen schlug.

Auch im Juni 1946 wurde optiert. Die Urbans wollten in der Heimat bleiben. Ewig würde Oberschlesien nicht polnisch sein, waren sie sich gewiß. Sie wollten ausharren. Tatsächlich schaffte es die Familie mit viel Glück, von der Vertreibungsliste gestrichen zu werden. „Wir wurden aus unserem Haus ausgesiedelt, aber nicht ausgewiesen", sagt Richard Urban.

Der 79jährige führt den Besucher durch sein Haus. Überall hängen Gemälde, Zeitungsausschnitte, Urkunden, Fotos: der Großvater in der Paradeuniform der kaiserlichen Armee, die Großmutter in Tracht, der Vater im hellen Tuch der in Griechenland stationierten Fallschirmjäger, einer der Söhne im dunklen des Bundesgrenzschutzes.

Urban hat in der polnischen Volksarmee gedient. In einer Einheit, in die man unsichere Kandidaten steckte, Angehörige der Volksgruppen oder Söhne von ehemaligen Offizieren der polnischen Heimatarmee. Ryszard Urban hieß er da seit acht Jahren, und die Briefe nach Hause sollte er gefälligst auf polnisch schreiben. „Wenn die Mutter das aber nicht versteht?" wagte er dem Spieß zu widersprechen.

Deutsch war seit Kriegsende in Oberschlesien verboten, auch in den deutschen Familien durfte es nicht gesprochen werden. Selbst der Pfarrer weigerte sich, die Kinder heimlich in der Muttersprache zu unterrichten: „Frau Urban, um Deutsch zu lehren, müßte man ein Held sein."

Auf den Grabsteinen wurden die Inschriften ausgemeißelt, in den Papieren die Namen polonisiert. Ein Herr Buschmann, der aus der Kriegsgefangenschaft wiederkehrte, fand seine Familie mit dem Namen Krzakowski – Busch gleich Krzak – vor.

Offiziell gab es bis 1990 keine Deutschen in Oberschlesien mehr. Diejenigen, denen die Heimat wichtiger war als die Sprache, lernten Polnisch. „Wer glaubte denn 20, 30 Jahre nach dem Krieg noch an eine Wende?" sagt Urban. „Wenn wir im Fernsehen die Truppenparaden in Moskau sahen, dachten wir, das wird ewig so sein."

Erst 1988 spürten die Deutschen in Oberschlesien einen Hauch von Freiheit. Heimlich trafen sie sich, um Volkslieder zu singen. Dann wurden die ersten Sozial-Kulturellen Gesellschaften der Deutschen, wie der Deutsche Freundschaftskreis (DFK), gegründet.

Als Bundeskanzler Helmut Kohl im November 1989 Polen besuchte, schenkte der der Minderheit das wichtigste: deutsche Pässe. „Wir mußten aber versprechen, in unserer oberschlesischen Heimat zu bleiben", sagt Urban. Er und seine Frau sowie zwei seiner Söhne haben das Versprechen gehalten, viele andere sind ausgewandert.

Die deutsche Volksgruppe in Oberschlesien schwindet. „Es ist schlecht bestellt, um die Zukunft", sagt Richard Urban: „Wieviele werden wir noch sein?" Bei der Volkszählung 2011 bekannten sich nur noch 45.000 ausschließlich zu ihrem Deutschtum, weitere 103.000 gaben neben der deutschen eine zweite Nationalität an. Die Alten sterben und die meisten aus den Nachkriegsgenerationen sind „rausgefahren". Viele Häuser stehen zum Verkauf.

Bei Urban und seinen Mitstreitern in den Sozial-Kulturellen Gesellschaften spürt man noch die grenzenlose Liebe zur Heimat, zur deutschen Sprache, aber es ist ein schier aussichtsloser Kampf, den sie führen. Ihr größter Erfolg, die Anerkennung als Deutsche durch die polnische Regierung, kam zu spät.

Die deutsche Kirche hätte Pfarrer schicken sollen

Die Hauptschuld liegt für Urban nicht bei den Kommunisten, sondern bei der katholischen Kirche. Diese habe in den Kirchengemeinden des Deutschen nicht mächtige Pfarrer eingesetzt, wodurch die Polonisierung konsequenter umgesetzt werden konnte, als es alle Verbote bewirkt haben. „Wir sind gläubige Menschen, können uns einen Sonntag ohne Kirchgang nicht vorstellen und unsere lieben Kirchenmänner sind fast alle polnisch gesinnt." Die deutsche Regierung hätte Lehrer und die Kirche Pfarrer nach Oberschlesien schicken müssen.

Zum Beweis lädt Urban in die Kirche in Nakel ein. Jeden zweiten Sonntag, acht Uhr, findet eine deutsche Messe statt. Nur wenige Dorfbewohner erwidern auf dem Weg zum Gottesdienst den Gruß auf deutsch, meistens heißt es „Dzień dobry“. Die Frauen haben sich schon früh eingefunden, um die Marienandacht zu sprechen. Dann erklingen deutsche Kirchenlieder. Der Pfarrer begrüßt die Anwesenden auf deutsch, für die Predigt wird er aber die polnische Sprache verwenden.

Es fällt immer schwerer, deutsche Spuren in den Dörfern Oberschlesiens auszumachen. Die gußeisernen Gullydeckel mit den Aufschriften sind verschwunden, seit mit EU-Geldern neue Bürgersteige gebaut wurden. An den Toren warnen polnischsprachige Schilder vor bissigen Hunden. Die Stimmen häuslicher Auseinandersetzungen, die auf die Straße dringen, sind polnisch. Die Namen auf den Grabsteinen erzählen häufig ebenfalls Geschichten der Polonisierung.

Daran ändern auch die Ortsschilder nichts, die inzwischen zweisprachig sind. Nakel erhielt seinen Namen 2008 zurück, Groß Stein 2010, Himmelwitz schon 2006. Deutsch ist in den Gemeinden zwischen Oppeln und Kattowitz als zweite Amtssprache eingeführt, wenn sich genügend Einwohner als Angehörige der Volksgruupe zu erkennen gaben.

Inzwischen gestatten die Behörden die Aufstellung von Denkmalen für die Gefallenen beider Weltkriege. Und die gegenständlichen Erinnerungen werden in kleinen Museen gesammelt. In Raschau ist in einem Backsteingebäude gegenüber der Kirche das Dorfmuseum eingerichtet worden.

Einen knappen Kilometer weiter sitzt ein Dutzend Oberschlesier im Garten an einer Tafel, die sich schier unter der Last des Aufgetischten biegt. Janek hat am Montag Geburtstag, aber heute ist Sonnabend und arbeitsfrei. Das Dutzend Gäste spricht polnisch, obwohl fast alle deutsche Pässe besitzen. Ab und an mischen sich ein paar deutsche Worte ins Polnische.

Zu Ehren des Gastes sucht das Geburtstagskind Sprachbrocken zusammen und hebt das Glas: „Ein Prosit, ein Prosit, auf die Gemütlichkeit." Denn Werbeprofi Janek, Musiker Raimund, Schweinezüchterin Sabina sowie Evelina, Cecilia und die anderen fühlen sich im Herzen als Deutsche. Sie pflegen Bräuche, die sie von ihren Eltern und Großeltern übernommen haben. Auch wenn es mit der Muttersprache hapert, sie haben ihr Auskommen gefunden, wollen hierbleiben. Sie widerstehen den Verlockungen des deutschen Sozialstaates mit seinen Konsumangeboten. „Das hier ist Heimat", sagt Janek.

Kriegerdenkmal, zweisprachige Ortstafel, Dorfmuseum, alles gestattet. Nur mit einem tun sich die polnischen Regierungsstellen noch immer schwer: mit der Genehmigung deutschsprachiger Schulen. Erst nach zähem Ringen ist es im September 2009 gelungen, in Raschau eine privat geführte Schule zu eröffnen, in der die Kinder in deutscher und polnischer Sprache unterrichtet werden. Träger ist der Verein „Pro Liberis Silesiae" (Für die Kinder Schlesiens). Ziel sei es, den muttersprachlichen Deutschunterricht zu verbessern und mehr Bildung in die Familien zu tragen, sagt die Vereinsvorsitzende Margarethe Wysdak. Inzwischen wurde auch ein bilingualer Kindergarten eröffnet. Wysdak ist hoffnungsvoll, daß beide Einrichtungen „ein Leuchtturm in Oberschlesien" werden.

„Der Herr sei mit euch", sagt der Pfarrer am Ende der Messe auf deutsch und entläßt die Gemeinde. Richard Urban ist noch immer zum Singen zumute. Diesmal ist es aber kein Kirchenlied, was er schmettert, sondern seine Nationalhymne: „Deutsch und frei woll‘n wir sein und wir bleiben dabei, weil wir Oberschlesier sind."

www.dfkschlesien.pl

www.edukacja-raszowa.eu

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