© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Es kann noch viel passieren
Bundestagswahl: Ein Blick in die jüngere Geschichte zeigt, daß der Kampf um die Wähler noch lange nicht entschieden ist
Paul Rosen

Erfahrene Propheten warten die Ereignisse ab. An diesen volkstümlichen Spruch erinnern Bundestagsabgeordnete in der jetzt zu Ende gehenden 17. Legislaturperiode nur zu gerne. Denn niemand mag einschätzen, wie die Prozente am Abend der Bundestagswahl am 22. September verteilt sein werden. Alles ist möglich, selbst eine absolute Mehrheit der Union bei den Bundestagssitzen wurde nicht ausgeschlossen, ehe die Abhöraffäre um amerikanische und britische Geheimdienste den Adrenalinspiegel der Bundesbürger stark steigen ließ: „87 Prozent aller Deutschen haben Angst", fand das Internet-Vergleichsportal Asfro.de bei einer Befragung zu den Internet- und Telefonaktivitäten der Geheimdienste heraus.

Die Euro-Krise als große Unbekannte

Tatsächlich sind die von dem ehemaligen amerikanischen Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden ausgeplauderten Geheimnisse über die Welt der Schlapphüte der beste Beweis, daß sich Wahlkämpfe nicht planen lassen und Wahlprogramme schon Wochen vor dem Wahltermin nichts mehr wert sein können – selbst wenn man wie die Union fast alle Forderungen der Konkurrenz übernommen hat. So wie Kanzlerkandidat Edmund Stoiber 2002 von der Flut und von der Debatte über eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg kalt erwischt wurde und das Terrain fast kampflos an Gerhard Schröder (SPD) verlor, bekommt nun Kanzlerin Angela Merkel Probleme: „Für die Union sind die Enthüllungsberichte des früheren NSA-Mitarbeiters Snowden auch deshalb brisant, weil sie der Opposition in die Hände spielen", warnte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe stöhnte: „Da müssen wir Position beziehen."

Wieder einmal bestätigt sich: Mit der Angst der Deutschen lassen sich die besten Geschäfte machen. Nicht von ungefähr ist im angloamerikanischen Raum der Begriff „German Angst" geprägt worden. Im aktuellen „ARD-Deutschlandtrend" kommen Merkel und die Union zwar auf 42 Prozent und damit einen historischen Bestwert. Aber andererseits wollen 78 Prozent, daß Merkel stärker gegen die Abhöraktionen protestieren soll. Und 35 Prozent sind dafür, Snowden in Deutschland Unterschlupf zu gewähren. Schon rücken die Grünen das Thema Datenschutz wieder nach vorne. Fraktionschef Jürgen Trittin sagte beim Grünen-Länderrat über Snowden: „Er hat einen gigantischen Rechtsbruch aufgedeckt – wir hätten allen Anlaß, diesen Whistleblower in diesem Lande aufzunehmen und ihm Schutz zu geben."

Überhaupt fühlen sich die Grünen auf einem Höhenflug, weil sie in den Umfragen bei 14 Prozent liegen, während die SPD mit 25 Prozent selbst die 30-Prozent-Mauer kaum noch im Blick hat. Die Linken werden zur Zeit bei sieben Prozent notiert. Alle anderen Parteien und auch die „Alternative für Deutschland" (AfD) werden unter fünf Prozent gesehen. Die FDP versucht natürlich, ihre Bürgerrechtstradition und den Datenschutz in den Mittelpunkt zu stellen, um im Herbst wieder ins Parlament zu kommen. Außerdem legte sich der Vorsitzende Philipp Rösler fest, daß er nur mit der Union und sonst niemandem zusammengehen will: „Eine Ampelkoalition ist völlig ausgeschlossen."

Den Piraten scheint die Abhöraffäre bisher nicht zu nutzen, obwohl es sich bei der Datensicherheit um ihr Spezialthema handelt. Und die SPD profitiert auch nicht davon, weil sich gleich die Frage stellt, was Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier gewußt haben. Schließlich waren sie selbst bis 2009 in der Bundesregierung, ehe sie aus der Großen Koalition in die Opposition mußten. Zudem hat Steinbrück das Verlierer-Image: Nur 13 Prozent und damit gerade die Hälfte der eigenen Wähler glauben, daß er Kanzler werden könnte. Steinbrück hat auch die einzige – derzeit – in Frage kommende Option, eine Neuauflage der 2009 beendeten Großen Koalition, für sich strikt verworfen.

Ein großes Risiko sehen die Berliner Parteien in der Euro-kritischen AfD, obwohl sie in den Umfragen bislang zwischen zwei und drei Prozent notiert. Am besten faßte die Wirtschaftswoche die Situation von Bernd Luckes AfD zusammen: „Die Aufmerksamkeit für die vor allem als Anti-Euro-Partei wahrgenommene AfD leidet derzeit darunter, daß die Euro-Krise seit einigen Wochen durch andere Großereignisse aus den Schlagzeilen verdrängt wird. Das allerdings könnte sich sehr schnell wieder ändern – die jüngsten Nachrichten aus Griechenland und anderen Staaten lassen das erwarten."

In der Tat sind die jüngsten Reisen von Außenminister Guido Westerwelle (FDP) und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) nach Athen vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Griechen mit Versprechen ruhiggehalten werden müssen – bis zum 22. September. Nach dem Wahlgang kann der Schuldenschnitt und damit eine gigantische Beteiligung des deutschen Steuerzahlers kommen.

Selbst der unwahrscheinliche Fall einer absoluten Unionsmehrheit und eine Neuauflage der christlich-liberalen Koalition haben das Problem der rot-grünen Blockademehrheit im Bundesrat. Kaum ein Gesetz könnte noch verabschiedet oder geändert werden. Wenn Röslers FDP wieder in den Bundestag kommt und bei ihrem Nein zur Ampel bleibt, lauten daher die Optionen Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün, wobei der letztgenannten Lösung von allen Beteiligten keine großen Sympathien entgegengebracht werden. Aber die Probleme wie die Gesetzgebungsblockade haben sich immer ihre Mehrheiten gesucht.

Sicher erscheint in dieser unruhigen Zeit nur eines: Merkel bleibt.

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