© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Sie horchen, wir gucken
Der Skandal um Abhöraktionen fremder Geheimdienste offenbart die Grenzen unserer Souveränität
Michael Paulwitz

Wirklich überraschend kam die Information, daß Amerikas und Englands Geheimdienste auf deutschem Boden im großen Stil abhören und spionieren, wohl nur für Uninformierte und Naive. Dennoch haben die Enthüllungen des derzeitigen amerikanischen Staatsfeinds Nummer eins, Edward Snowden, eine längst notwendige Debatte angestoßen. Jenseits der üblichen Parteien- und Wahlgeplänkel liegt der Kern der Sache tiefer: Der Abhörskandal stellt zuerst und vor allem die Frage nach der deutschen Souveränität.

Um die scheint es nicht zum besten zu stehen, wenn selbst die FAS dieser Tage damit aufmacht, daß das Recht der Amerikaner, in Deutschland Post, Telefon und Kommunikation zu überwachen, Nachrichten zu sammeln und von den deutschen Diensten die Herausgabe von Rohdaten zu verlangen, auf Vereinbarungen im Zuge von Nato-Beitritt und Truppenstationierung aus den fünfziger und sechziger Jahren zurückgeht, die bis heute fortgelten.

Siegerrecht wurde Besatzerrecht, Besatzerrecht wurde deutsches Recht – wer wollte, konnte schon vor Jahren aus den Veröffentlichungen des Freiburger Historikers Josef Foschepoth erkennen, daß dieser Zusammenhang auch für Abhörmaßnahmen und Kommunikationskontrollen auf deutschem Boden gilt. Die Bundesrepublik Deutschland erscheint in diesem Lichte als ein Staat, der auch nach Wiedervereinigung und Zwei-plus-Vier-Vertrag weder dem Buchstaben nach noch faktisch souverän ist, sondern ein Land, in dem fremde Mächte bestimmte Vorrechte genießen, die sie ungeniert und ohne zu fragen auch in Anspruch nehmen.

Sich darüber zu beschweren ist so lange müßig, wie man nicht selbst gewillt ist, diesen Zustand zu ändern. Souveränität wird nicht von außen übertragen und verliehen, Souveränität muß man beanspruchen und sich nehmen. Nicht ohne Grund bezeichnet das Attribut „souverän", wenn man von Charakteren spricht, eine innere Haltung, die das Gesetz ihres Handelns selbstbestimmt aus dem Eigenen bezieht und sich nicht von anderen dominieren und ihren Willen aufzwingen läßt. An dieser Souveränität fehlt es nicht nur Deutschlands Politikern, sondern dem Gemeinwesen als Ganzem.

Das deutsche Souveränitätsdefizit besteht letztlich weniger in den Buchstaben der Abkommen und Verträge, die den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs bis heute bestehende Sonderrechte einräumen, es besteht auch nicht primär darin, daß diejenigen, die die Macht und die Gelegenheit dazu haben, diese Rechte auch in Anspruch nehmen – Deutschland ist nicht souverän, weil sich seine politischen Eliten, aber auch das Gros seiner Bürger in diesem Status verminderter Selbstbestimmung und eingeschränkter Gleichberechtigung recht behaglich eingerichtet haben.

Ein Gradmesser dafür ist die Bereitschaft, das moderne Märchen zu schlucken, bei den umfangreichen Abhör- und Überwachungsmaßnahmen gehe es ja in erster Linie um präventive Terrorbekämpfung, der Normalbürger habe nichts zu befürchten und zu verbergen, man solle sich doch nicht so aufregen.

Jede Bundesregierung, gleich welcher Couleur, hat in der Vergangenheit diese Praktiken und ihre Grundlagen akzeptiert und der eigenen Bevölkerung verschwiegen. Auch die jetzige Opposition wird, sollte sie tatsächlich an die Regierung kommen, dieses Faß wohl kaum aufmachen. Da mag der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, noch so treuherzig verkünden, „keine Bundesregierung" könne es „akzeptieren, daß wir ein Land minderen Rechts sein sollen" – bislang hat es noch jede getan.

Jenseits des Wahlkampfdonners erscheint es schwer vorstellbar, daß eine politische Klasse, die dem eigenen Volk und Nationalstaat so tief mißtraut, daß sie beides am liebsten in einem europäischen Superstaat auflösen würde, gegenüber den USA beginnen könnte, auf das Selbstbestimmungsrecht zu pochen. Und es ist kaum realistisch zu erwarten, daß Politiker, die sonst nichts Eiligeres zu tun haben, als nationale Hoheitsrechte an der Brüsseler Garderobe abzuliefern, diese nun ausgerechnet von den US-Geheimdiensten zurückfordern.

Wer von Amerika „vertragliche Zusagen" verlangt, das Abhören von Deutschen zu unterlassen, der muß in letzter Konsequenz das in die deutsche Rechtsordnung fortgeschriebene Besatzungsrecht in Frage stellen. Ohne den Willen dazu bleibt die Forderung genauso folgenloses Wortgeklingel zur Beruhigung der Bürger wie des Regierungssprechers markiges „Abhören von Freunden geht gar nicht."

Souveräne Staaten haben nämlich keine Freunde, sondern Interessen, die mal übereinstimmen und mal auseinandergehen können. Und in den Beziehungen der Staaten untereinander geht es immer noch zuerst um Machtfragen. Washingtons Dienste hören in Deutschland und Europa ab, weil sie es können – wegen der technischen und infrastrukturellen Dominanz amerikanischer Unternehmen in den neuen Medien, und wegen der weltweiten politischen Dominanz der amerikanischen Supermacht. Und sie nutzen gewonnene Daten zur Wirtschaftsspionage, weil sie sie haben und weil sie darin einen Vorteil für ihr Land sehen – egal ob ihre obersten Vorgesetzten Obama heißen oder Bush, ob sie auch mal verbindliche Töne anschlagen oder ganz darauf verzichten.

An diesen Grundkonstanten kann die deutsche Politik so schnell nichts ändern, selbst wenn sie wollte. Aber sie kann ihre Spielräume nutzen und erweitern: eigene Kommunikationssysteme aufbauen oder den eigenen Geheimdienst im gesamtstaatlichen Interesse zur besseren Spionageabwehr einsetzen statt zur Denunziation Andersdenkender. Der erste Schritt in die Souveränität aber ist, sich und dem Volk keine Illusionen mehr zu machen.

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