© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Der Flaneur
Pikser im Wartezimmer
Claus-M. Wolfschlag

Links glotzt ein Rentner griesgrämig zu Boden. Ich wähle den Platz in der Mitte, neben der Muslima mit dem grauen Kopftuch. Dort schaut man direkt durch die offene Tür zur Theke und der türkischen Sprechstundenhilfe. Ich mag es, wenn sie hin und her eilt, um Patienten zu den Behandlungszimmern zu lenken, etwas schlaksig und manchmal einen kurzen Blick zu uns ins Wartezimmer werfend. Mit schimmernden Locken und stets melancholisch wirkenden braunen Augen.

„Ihre Jacke ist heruntergefallen“, sagt sie. Sie hat ein schmales, feines Gesicht.

Ich denke noch darüber nach, ob das ein Ehering ist, den sie trägt, als eine deutsche Mutter mit ihren beiden Töchtern das Wartezimmer betritt. Die drei sind in Sportkleidung und setzen sich auf die freien Stühle zur Rechten. Die Mutter ist faktisch adipös, ihre 16jährige Tochter dick. „Wir machen nur ein paar Pikser für den Allergietest, sie müssen dann den Arm eine halbe Stunde ruhig halten“, sagen die Arzthelferinnen. Umgehend fängt die Mutter zu japsen an: „Mir wird ganz anders. Des tut so weh.“

Die Arzthelferinnen erledigen ihre Arbeit schnell und überlassen uns dem Schicksal. „Mir wird anders“, japst die Mutter. Ihre große Tochter stimmt bald in das Klagelied ein: „Isch kann den Arm net mehr ruhig halte. Er rutscht.“ Die Zehnjährige, vom Test verschont, schreit: „Mama, geh’n wir bei Burger King?“ „Nein, des geht jetzt net“, antwortet die Mutter. „Isch will aber. Wann gehen wir bei Burger King?“ ruft die Kleine immerfort. Die große Tochter schreit: „Des juckt so. Isch kann den Arm net mehr ruhig halte.“

In diesem Moment summt das Handy der Muslima neben mir. Das Foto eines Kindes auf dem Display. Sie flüstert leise, sie komme bald. Dann tippt sie an meine Schulter. „Ihre Jacke ist heruntergefallen.“ Sie hat ein schmales, feines Gesicht. „Vielen Dank“, antworte ich. Dann werde ich aufgerufen. „Oder gehen wir bei Mc Donald’s?“ höre ich es noch aus dem Zimmer schreien.

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