© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

In Bismarcks Bahnen
Stefan Scheils Neubewertung des NS-Außenpolitikers Joachim von Ribbentrop
Jürgen Böttcher

Zeithistoriker samt ihrer Multiplikatoren in Presse und Fernsehen haben dafür gesorgt, den Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop auf die Rolle des hitlerhörigen Jasagers, des außenpolitisch stümperhaft agierenden „Sektvertreters“ zu reduzieren. Ein Mann ohne eigene Ideen, der den „Lebensraum“-Utopien seines Führers anhing, der Adolf Hitlers Fehleinschätzung festigte, das „dekadente“ England werde sich einer deutschen Ostexpansion nicht in den Weg stellen. Mithin hätten gerade die Einflüsterungen dieses Paladins entscheidend zur allein Deutschland anzulastenden „Entfesselung“ des Zweiten Weltkrieges beigetragen.

Daß an einem derart groben Holzschnitt etwas nicht stimmen kann, erfährt heute mühelos, wer bei Youtube eine dreistündige Befragung anhört, der sich von Ribbentrop im Nürnberger Prozeß als „Hauptkriegsverbrecher“ stellte. Da antwortet keine hochnäsige, politisch desorientierte Karikatur eines „Nazi“-Ministers, sondern – angesichts des sicheren Todesurteils – ein in sich ruhender, präzis formulierender, die Grundzüge der internationalen Mächtekonstellation in den 1930ern prägnant nachzeichnender Außenpolitiker. Mit diesem Eindruck im Ohr fällt es sogar nicht schwer, das Urteil seines jüngsten Biographen, Stefan Scheil, nachzuvollziehen, von Ribbentrop sei eine „in vieler Hinsicht sympathische Persönlichkeit“ gewesen.

Nicht gewillt, den Konflikt 1939 eskalieren zu lassen

Scheils Studie beginnt mit dieser Provokation, die den Startschuß gibt für ein Schlachtfest, das genüßlich die heiligen Kühe zeithistorischer Orthodoxie opfert. Im Mittelpunkt steht dabei eine auf akribische Quellenauswertung gestützte Neubewertung der Politik des seit 1938 amtierenden Reichsaußenministers. Im Gegensatz zu porösen Deutungsmustern von der „Lebensraumeroberung im Osten“ als erster Phase im „Stufenplan zur Weltherrschaft“ weist Scheil schlüssig auf mitteleuropäisch begrenzte außenpolitische Konzeptionen Hitlers hin, die sich auf Österreich, das Sudetengebiet, den polnischen „Korridor“ sowie die Rückgewinnung Danzigs und des Memellandes beschränkten. Ribbentrop stünde dann eher in der Tradition jener Reichsdiplomatie, die von Bismarck über Bethmann-Hollweg und Stresemann zu Ernst von Weizsäcker führt.

Diese mit Ausnahme einer „Korridor“-Neuregelung bis zum März 1939 realisierten Ziele hatte AA-Chef Ribbentrop gegen die „Kriegsparteien“ in Warschau und den westlichen Machtzentralen abzusichern. Damit ist er gescheitert, aber nicht, weil er die Kriegsbereitschaft des Westens unterschätzte, sondern weil er trotz angelsächsisch-polnischer Entschlossenheit, die Waffen sprechen zu lassen, auf eine friedliche Lösung des Konflikts hoffte. Scheils Rekonstruktion der von Ribbentrop wesentlich mitgetragenen Anstrengungen um eine von England vermittelte Übereinkunft mit Polen, seine quellennahe Schilderung der hochdramatischen Augustwochen 1939, sind Kabinettstücke der Diplomatiegeschichte, die beweisen, daß Reichskanzlei und AA in der Tendenz eben nicht gewillt waren, den Konflikt im Sommer 1939 zum Weltkrieg eskalieren zu lassen.

Die bestechenden Argumentationen Scheils blamieren zeithistorische Meinungsführer gleich reihenweise. Als Volkspädagogen mit dem Hang zur Geschichtsfälschung lernt man angesehene Ordinarien wie Walther Hofer oder Hans-Adolf Jacobsen ebenso kennen wie den mit Quellenkritik eher ungeübten Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller oder jene Archivbesuche meidende AmateurCombo um Eckart Conze, Norbert Frei oder Moshe Zimmermann, die vorgab, das AA als „verbrecherische Organisation“ enttarnt zu haben (zuletzt JF 8/13).

Mit kriminalistischem Gespür deckt Scheil den „Skandal“ auf, einem breiten Publikum zur Vorgeschichte des 1. September 1939 „direkt wahrheitswidrige“ Konstruktionen zuzumuten. Überhaupt zählt seine Kritik der Überlieferungsgeschichte jener Quellen, die seit Kriegsende das inzwischen multimedial vermittelte Zerrbild der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges formen, zu den Glanzpartien der in dieser Hinsicht nicht armen Untersuchung. Aus didaktischer Sicht hätte Scheil hier sogar noch nachlegen müssen.

Immerhin genügt das Gebotene, um dem FAZ-Rezensenten Ulrich Schlie Respekt abzunötigen. „Im Einzelnen“ gelängen Scheil, dem er „profunde Kenntnis von Quellen und Literatur“ attestiert, „treffende und die Forschung voranbringende Erkenntnisse“ (Ausgabe vom 3. Juni). Weiter dürfen Zugeständnisse indes nicht gehen. Der Spaß hört für den Abteilungsleiter im Bundesverteidigungsministerium und notorischen Apologeten Ernst von Weizsäckers da auf, wo Ribbentrops Staatssekretär in Scheils Visier gerät, und von dessen Nimbus als Bremser und halbem Widerstandskämpfer im AA nach der Analyse der „Lebenserinnerungen“ (1950) und der von der Familie wohlweislich dem angelsächsischen Editor Leonidas Hill anvertrauten „Weizsäcker-Papiere“ (1974) nichts mehr übrig bleibt.

Noch weniger verhandelbar ist für Schlie Ribbentrops Anteil an der „verbrecherischen und aggressiven NS-Politik“. Folglich ist „tendenziell revisionistisch“, wer sich wie Scheil mit seiner These von deutscher Selbstbegrenzung auf den Status einer mitteleuropäischen Hegemonialmacht erdreistet, abweichende („unhaltbare“) Ansichten zur NS-Außenpolitik zu riskieren. Daher dekretiert Schlie, die „zentrale Frage des Zweiten Weltkrieges“ sei eben nicht, „ob die Existenz eines Deutschlands in den Grenzen von 1939 mit dem Anspruch auf eigene Interessenssphären in Ostmitteleuropa zu dulden sei oder nicht, sondern die Frage, wie die freie Welt auf fortgesetzte Völkerrechtsbrüche eines Aggressors zu reagieren habe“.

Die von Schlie benutzte und auch in der etablierten Historikerzunft verbreitete Floskel von der „freien Welt“, die offenbar sogar das polnische Militärregime von Edward Rydz-Śmigły einbezieht, mutet befremdlich an. Denn diese Sicht glorifiziert in unzulässiger Weise die Machteliten in Paris, London und Washington der dreißiger Jahren als hehre Hüter des Völkerrechts, um damit gleichzeitig die Fortsetzung der von allen Weimarer Reichsregierungen verfolgten Revision der Versailler Unordnung als Politik eines „Aggressors“ zu denunzieren.

Die USA traten bekanntlich dem Genfer Völkerbund nicht bei und konnten daher ihre Interessen in Mittelamerika ungeniert um das Völkerrecht eher mit der Marineinfanterie als mit juristischen Winkelzügen durchsetzen. Die mit der Unterdrückung kolonialer Hintersassen beschäftigten Briten behandelten das Völkerrecht nicht erst im Ersten Weltkrieg elastisch, als sie die deutsche Zivilbevölkerung aushungerten. Und bei den in ihrem Kolonialreich ebenfalls wenig zimperlichen Franzosen muß man nur an die Indolenz erinnern, mit der sie 1923 die völkerrechtswidrige Annexion des Memellandes durch Litauen oder die permanente Verletzung der international verbürgten Minderheitenschutzrechte durch die in Prag und Warschau regierenden Chauvinisten duldeten. Zudem hatten es die Westmächte seit 1933 nie mit „fortgesetzten Völkerrechtsbrüchen“, sondern genaugenommen nur mit einem „Bruch“ zu tun: der Zerschlagung der „Resttschechei“ und dem Einmarsch der Wehrmacht im März 1939. Und selbst diesen Ausgriff beurteilen Experten des internationalen Rechts nicht einhellig als Bruch des Münchener Abkommens.

Mit der einseitigen Zuschreibung des „Aggressor“-Status an das Deutschen Reich und der Legende von den westlichen Wahrern des Völkerrechts, vertritt die von Scheil mit seinem faktenreichen Werk angegriffene Zunft, für die Schlie in den Ring steigt, volkspädagogisch anmutende Wege. Mit den Quellenbelegen für Deutschlands „alleinige Kriegsschuld“ pflegt man hingegen zu geizen. Oder die „Beweise“ ähneln der putzigen These des MGFA-Direktors Rolf-Dieter Müller, der den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs allen Ernstes mit Hitlers Angst vor frühem Tod und dessen „persönlicher Torschlußpanik“ erklärt. Dies alles hat Unterhaltungswert und klingt in nicht nur in Schlies routinierter Abfertigung einer besser fundierten Analyse der internationalen Konfliktlage im Sommer 1939 moralisch einwandfrei. Es hat nur bedauerlicherweise nicht allzu viel mit dem zu tun, was Scheil aus den Akten jener Zeit sprechen läßt.

Man darf gespannt sein, ob sich die Rezeption der erquickend innovativen Forschungen Scheils über jene affektgesteuerte Polemik von Schlie und Konsorten noch wesentlich erhebt. Skepsis ist angebracht, denn eher ist das Verschwinden dieses Werkes in der Schweigespirale als eine seriöse Debatte darüber zu erwarten. Zu offenkundig hat sich die etablierte Zeithistorikerschaft gerade in der Kriegsursachenforschung zu 1939 als Lieferant politisch erwünschter Geschichtsbilder erniedrigt, um sich mit unabhängigen Köpfen in einen voraussetzungslosen, herrschaftsfreien Diskurs einzulassen.

Foto: Joachim von Ribbentrop als Außenminister 1938 in London: Selbstbegrenzung auf eine mitteleuropäische Hegemonialmacht

Stefan Scheil: Ribbentrop. Oder: Die Verlockung des nationalen Aufbruchs. Eine politische Biographie. Duncker & Humblot, Berlin 2013, gebunden, 409 Seiten, 28,90 Euro

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