© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Immer an Willys Seite
Egon Bahr blickt anekdotenreich auf sein politisches Leben neben Willy Brandt zurück
Thorsten Hinz

Außenpolitiker, die konzeptionell denken und ihr Handeln intellektuell anspruchsvoll reflektieren, sind in Deutschland selten. Zu den wenigen gehört der inzwischen 91jährige Egon Bahr, der „Architekt der deutschen Ostpolitik“. Die wurde ihm im Westen oft als Anbiederung an Moskau angekreidet, während die DDR ihm vorwarf, eine „Aggression auf Filzlatschen“ zu planen.Bahr wirkte aus der zweiten Reihe, als engster Mitarbeiter und Vertrauter von Bundeskanzler Willy Brandt.

Er war sein Pressesprecher, Redenschreiber und Geheimdiplomat. Und sein Freund. Hier bezeichnet das Wort mehr als eine politische und berufliche Zweckgemeinschaft, nämlich eine tiefe persönliche Bindung, die bis zu Brandts Tod im Oktober 1992 andauerte. Bahr will mit diesem Buch einen Freundschaftsdienst leisten und Leerstellen füllen, die der diskrete, das Unterstatement pflegende SPD-Vorsitzende in seinen Erinnerungen ausgespart hatte.

Das Buch schildert eine kongeniale Partnerschaft zwischen dem Charismatiker und dem Vordenker. Bahr, der gebürtige Berliner und gelernte Journalist, war 1956 in die SPD eingetreten. Nicht um die deutsche Gesellschaft, sondern die deutsche Außenpolitik zu verändern, die unter Adenauer einem strikten Westkurs folgte. In seiner Meinung über Adenauer stimmt Bahr fast wörtlich mit dem Nationalkommunisten Wolfgang Harich überein: Der Bundeskanzler und sein Widerpart Walter Ulbricht seien einander bedingende Komplementärfiguren gewesen. Beide hätten die deutsche Einheit gar nicht gewollt.

Bahr fühlte sich der sozialdemokratischen Traditionslinie von Friedrich Ebert bis Ernst Reuter und Kurt Schumacher verpflichtet. Vor allem Schumacher war ihm ein Vorbild. Allerdings nur in der Haltung, nicht in der praktischen Politik. Denn die junge Bundesrepublik war kein souveräner Staat und hätte sich diesen leidenschaftlichen, den Alliierten gegenüber selbstbewußt, ja herrisch auftretenden Patrioten als führenden Politiker nicht leisten können. Diese Einsicht relativiert das harsche Urteil über Adenauer.

Die Gelassenheit, mit der die Westmächte 1961 den Mauerbau quittierten, führte Brandt – damals Regierender Bürgermeister von Berlin – und Bahr vor Augen, daß die Verbündeten mit der deutschen Teilung bequem leben konnten. Die deutsche Entspannungspolitik, die Brandt und Bahr entwarfen, war in ihren Ursprüngen als eigenständige und aktive Deutschlandpolitik gedacht. Konzipiert wurde sie aus Berliner, weniger aus Bonner Perspektive. Als Brandt 1966 Außenminister einer großen Koalition wurde, folgte Bahr ihm als Chef des Planungsstabes ins Auswärtige Amt. Erstaunt stellte er fest, daß keinerlei Konzepte zur Wiedervereinigung existierten. Der Satz, der Brandt so schwer verübelt wurde: Die Wiedervereinigung sei die „Lebenslüge“ der Bundesrepublik gewesen, wird dadurch plausibel.

Vieles, was Bahr mitteilt, ist aus seinen und Brandts Memoiren schon bekannt. Man liest die zahlreichen Anekdoten dennoch amüsiert. Etwa, daß der Kanzler sich bei seinem Amerikabesuch nicht vorzustellen vermochte, im Gästehaus der US-Regierung abgehört zu werden. Schonungslos verbreitete er sich darüber, wie unsympathisch ihm Präsident Nixon sei. Der erfuhr natürlich davon und zürnte postwendend gegen den deutschen „Alkoholiker“.

Wohl des Landes höher zu stellen als das Wohl der Nato

Herbert Wehner, langjähriger SPD-Fraktionschef, der eigene Geheimkontakte nach Pankow unterhielt, wird von Bahr ziemlich unverblümt als Verräter angeprangert. Für den Fall, daß in Deutschland atomare Kurzstreckenraketen zum Einsatz kommen sollten, seien die Kanzler Brandt und Schmidt entschlossen gewesen, die Bündnisloyalität aufzukündigen und „das Wohl des Landes höher zu stellen als das Wohl der Nato“.

Neben Einblicken in die Hintergründe der deutschen und internationalen Politik gibt es auch selbstkritische Reflexionen. Die Aufnahme Großbritanniens in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1973 hält Bahr für einen Fehler, weil die Briten stets das Trojanische Pferd der Amerikaner blieben. Das aber sei fatal. „Wer die Selbstbestimmung Europas will, kann sie nicht zur Disposition von Washington stellen.“ Brandt hielt die USA zwar für politisch unersetzlich, doch als Lebensform blieben sie ihm fremd.

Etwas flapsig geht Bahr über die Frage der Oder-Neiße-Linie hinweg, die doch mehr war als bloßer „Formelkram“. Selbst wenn man ihm darin zustimmt, daß eine Revision unmöglich war, bleibt doch die Frage, ob im Zuge der Ostverträge politisch nicht mehr herauszuholen gewesen wäre. Zumindest hätte der Gebietsverzicht als eine materielle und moralische Vorleistung festgeschrieben und ins breite Bewußtsein gehoben werden müssen, die jede nachträgliche Forderung an ein vereintes Deutschland ausschließt.

Egon Bahr: „Das mußt du erzählen“. Erinnerungen an Willy Brandt. Propyläen Verlag, Berlin 2013, 231 Seiten,  Abbildungen, 19,99 Euro

Foto: Egon Bahr mit dem Ehepaar Brandt, Berlin 1963: Charismatiker und sein Vordenker

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