© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Souveränität und EU
Der dreifache Verrat
Felix Dirsch

Spätere Generationen werden vielleicht für die Welt nach 1989/90 ähnliche Wandlungsprozesse konstatieren, wie sie Reinhart Koselleck im Hinblick auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Ausdruck „Sattelzeit“ beschrieben hat. Gemeint sind mit dieser Terminologie die Verflüssigung und der Bedeutungswandel von Begriffen im Vorfeld von 1789. Vergleichbares spielt sich auch in der unmittelbaren Gegenwart ab. Betrachten wir exemplarisch das, was „Souveränität“ beinhaltet – immerhin zentrales Gedankengut der neuzeitlichen politischen Theorie und des Verfassungsrechts („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, Artikel 20 Grundgesetz).

Wie rasant die Souveränität und damit die politischen Wirkmöglichkeiten der europäischen Völker ausgehöhlt werden, war zuletzt Mitte Juni zu beobachten. Der Bundestag beschloß in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein Gesetz zum gemeinschaftlichen Bankenaufsichtsmechanismus, das es möglich macht, finanziell angeschlagenen Banken direkt Geld aus dem ESM zukommen zu lassen. Dieser Fonds, dessen Obergrenze faktisch unbegrenzt ist, war ursprünglich nur zur Unterstützung klammer Staaten begründet worden. Im März einigte sich die Politik zuvor auf eine zentrale EZB-Bankenaufsicht. Was dieses für ein einst stolzes Organ wie den deutschen Bundestag bedeutet, hat der SPD-Politiker Carsten Schneider auf den Punkt gebracht, wenn er kritisiert, die deutsche Volksvertretung werde bei der EZB nur als Bittsteller auftreten können und auf Entscheidungen dieses Gremiums kaum Einwirkungsmöglichkeiten haben. Besser läßt sich der Niedergang der nationalen Parlamente Europas kaum beschreiben.

Ist die sukzessive Demontage des Grundgesetzartikels 20, der dem Volk alle Macht zueignet, wirklich so schlimm? Eine kurze Rekapitulation europäischer Denktraditionen ist aufschlußreich. Souveränität und das Streben danach sind nicht zu scheiden von zentralen Postulaten neuzeitlicher Emanzipationsbemühungen. Dazu gehören Selbstbestimmung und autonomes Handeln. Thomas Hobbes forderte einen allmächtigen Leviathan, der Sicherheit schafft. Dessen Regierung wird aber nicht wie traditionell als von Gott gewollt begründet, sondern vielmehr aufgrund des zweckrational indizierten Nutzens aller, deren prinzipielle Todesgefahr durch diesen Akt wenigstens minimiert werden soll. Das äußere Zeichen des autonomen Aktes ist der Vertrag, der sämtliche Rechte auf den souveränen Herrscher überträgt.

Nominell ist Deutschland nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag souverän. Aber nur auf dem Papier. Die tatsächliche politische Schwäche des Staates, so in der Außenpolitik, wurde mit der wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik weithin kompensiert.

Dieses Ziel verfolgte schon einige Jahrzehnte vor Hobbes Jean Bodin. Der französische Denker erlebte die Schrecken des konfessionellen Bürgerkriegs. Ein Höhepunkt der Kämpfe war die mörderische Bartholomäusnacht. Abhilfe sollte seiner Meinung nach ein Staat schaffen, der sich über die Konfliktparteien erhebt und öffentliche von privat-religiösen Angelegenheiten trennt. Einer, der Souverän, sollte nach der Ausschaltung seiner Mitstreiter für das Gemeinwesen verbindliche Entscheidungen treffen. Der Frieden von Münster und Osnabrück 1648 zementierte die Staatensouveränität, die zumindest bis Mitte des 20. Jahrhunderts völkerrechtlich weithin anerkannt wurde.

Mit Rousseau erfährt der neuzeitliche Souveränitätsdiskurs eine nachhaltige Neuorientierung. Nicht mehr ein einzelner soll danach ungeteilte Herrschaft besitzen, sondern das Volk. Es müsse eine Identifikation von Regierenden und Regierten geben, wofür der Allgemeinwille ein Garant sei. Solches Gedankengut elektrisierte bereits im Vorfeld der Französischen Revolution viele Neuerungswillige aus allen Schichten der Bevölkerung.

Auch noch die demokratischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, etwa der ersten Welle nach dem Ersten Weltkrieg, zehrten von solchen Impulsen. Wilsons Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker wirkte nach dem Krieg anziehend, so sehr es auch nur partiell umgesetzt wurde. Nach 1918 waren Konflikte zwischen der Staatensouveränität – die nunmehr souveränen Nationalstaaten strebten nach ethnischer Homogenität – und den Rechten der nationalen Minderheiten an der Tagesordnung. Letztere begrüßten zumeist die Vorstellung, alle Angehörigen der gleichen Ethnie sollten in einem eigenen Staatsgebilde leben. Daß solche Spannungen in neue Kriege münden würden, war vorauszusehen, ebenso neue, völkermordähnliche Vertreibungen und „ethnische Säuberungen“.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erfuhr die völkerrechtliche Souveränität der Staaten mit dem in der UN-Charta festgelegten Verbot der Gewaltanwendung (welches nur durch den UN-Sicherheitsrat aufgehoben werden kann) Einbußen. Für Deutschland waren die Einschränkungen der Souveränität während der Besatzungszeit besonders eklatant. Der Staatsrechtslehrer Karl Albrecht Schachtschneider, dessen jüngst publizierte Untersuchung „Die Souveränität Deutschlands“ aus der Fülle von Studien zu diesem Thema herausragt, hat den Unrechtscharakter der Ignorierung von Souveränität, sowohl nominell wie auch faktisch, selbst für diesen vergleichsweise kurzen Zeitraum herausgestellt: „Die Staatsgewalt oder die Souveränität über deren Grenzen hinaus einzuschränken ist Verrat an der Freiheit, Verrat am Recht, Verrat am Volk …“

Im Hinblick auf die innere wie äußere Souveränität kann man in Deutschland sowohl vor wie auch nach 1945 ein im Vergleich zu den Nachbarstaaten unterschiedliches Verhalten feststellen. Wurde die staatliche Souveränität vorher, etwa in der Führung von Angriffskriegen, zum Teil maßlos überzogen und mißbraucht, so kann man für den Zeitraum seit 1949 eine zu leichtfertige Aufgabe der damit verbundenen rechtlichen Ansprüche und Möglichkeiten feststellen. Immerhin korrelierte die Übertragung von Souveränitätsrechten auf internationale Einrichtungen in der Ära Adenauer paradoxerweise mit der Vergrößerung von politischen Handlungsmöglichkeiten. Manche Zeithistoriker behaupten, die Internationalisierung bestimmter Güter wie Kohle und Stahl habe die Nationalstaaten sogar zu stärken beabsichtigt, weil sich so ihre Zuständigkeiten über die eigenen Grenzen hinaus erweitert haben.

Folglich kann man nur bedingt einen Bogen schlagen zur Situation sechzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, in der auch noch vorhandene Reste von Eigenständigkeit faktisch aufgegeben worden sind. Nominell ist Deutschland nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag souverän. Aber nur auf dem Papier. Mit der wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik wurde die tatsächliche politische Schwäche des Staates, so in der Außenpolitik, weithin kompensiert. Große Teile des Volkes haben diesen Ausgleich begrüßt. Freilich wurde er durch die Einführung der Gemeinschaftswährung konterkariert. Wenigstens auf längere Sicht ist eine ökonomische Schwächung der Handlungsmöglichkeiten unvermeidlich – schon allein wegen der Umverteilungen und Enteignungen. Eine Fülle von Darstellungen aus der letzten Zeit – kürzlich auch Joachim Starbattys Buch „Tatort Euro“ – präsentiert Belege dafür.

In einer solchen Lage fällt es den politisch Verantwortlichen nicht schwer, die Katze aus dem Sack zu lassen. Wolfgang Schäuble bekundete Ende 2011 vor Mächtigen der Großbankenwelt, Deutschland sei nach 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr souverän gewesen. Das ist unstrittig, und doch stellt sich eine wichtige Frage, über die der amtierende Finanzminister nicht nachgedacht hat: Wer entscheidet dann über das Wohl und Wehe des eigenen Volkes, wenn nicht dieses selbst? Ist es die mächtige Bankenwelt? Ist es die überaus einflußreiche, aber nur mittelbar und bedingt demokratisch legitimierte Eurokratie? Sind es internationale Organisationen? Vielleicht alle ein wenig. Der Ökonom Rainer Hank hat es jüngst im Merkur offen zu Papier gebracht: Politische Rechte würden vom Bundestag schnell und gern an die EU-Zentrale abgegeben. Was geschieht aber dort mit diesen Befugnissen?

Man kann noch weiter gehen: Was helfen die verfassungsrechtlichen Standards, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, wenn dieses immer mehr – aus politischen Gründen – die Oberhoheit des Europäischen Gerichtshofes anerkennen muß? Diese Institution gewährt deutlich weniger Rechtsschutz als die vergleichbare deutsche. – Die Liste der souveränitätstangierenden Begrenzungen durch die EU ist lang. Der Interessierte kann das entsprechende Kapitel („Souveränitätsverletzungen der europäischen Integration“) in der erwähnten Schrift Schachtschneiders studieren.

Demokratisch legitimierte Souveränität bedingt eine wenigstens relative Homogenität der Staatsbürger, was nicht zuletzt die Publikationen Carl Schmitts belegt haben. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist die gemeinsame Sprache, ohne die höchstens eine unzureichende politische Öffentlichkeit hergestellt werden kann. Daß Wahlen zum EU-Parlament weit mehr nationalen denn europäischen Charakter besitzen, wurzelt zu einem nicht geringen Teil in diesem Mangel.

Das Gebiet der EU ist weder ein optimaler Raum für eine einheitliche Währung noch ein solcher, der die legitime Ausübung demokratisch-hoheitlichen Handelns erlaubt. Schon die Klassiker neuzeitlichen Staatsdenkens, vor allem Montesquieu, haben den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Größe des Staatsgebietes und der Regierungsform hervorgehoben. Große Räume bedingen nach Montesquieu meist despotische Regierungsgewalt, muß doch die Zentralgewalt stetige Machtkämpfe mit den zentrifugalen Kräften austragen. Je kleiner das Staatsgebiet, desto mehr setzen sich republikanische Formen der Machtausübung tendenziell durch, während mittlere Gebilde meist (am besten konstitutionelle) Monarchien sind, weswegen sie der französische Theoretiker bevorzugt. Heute entspricht eine derart mittlere Größe am ehesten einer freiheitlichen Demokratie.

Naiv wäre es zu meinen, man könnte im frühen 21. Jahrhundert zu einer staatlichen Souveränität zurückkehren, wie sie vor hundert Jahren noch üblich war. Notwendigkeiten rechtfertigen allerdings nicht, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

So ist am Ende dieser Tour d’horizon durch das Gestrüpp der Souveränitätsthematik zusammenzufassen: Gewiß wäre es naiv zu meinen, man könnte im frühen 21. Jahrhundert zu einer staatlichen Souveränität zurückkehren, wie sie noch in der ersten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts üblich war. Zu stark sind länderübergreifende Tendenzen. Ohne eine wenigstens partielle Reduktion des einstmaligen staatlichen Souveränitätsmonopols geht es nicht.

Diese Notwendigkeiten rechtfertigen allerdings nicht, das Kind mit dem Bade auszuschütten, was in der praktischen Politik Europas längst geschehen ist. Mindestens vier Fünftel aller Gesetze werden direkt oder indirekt von Brüssel aus vorgegeben. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Wesentliche Errungenschaften des politischen Denkens der Neuzeit, wie Demokratie und Souveränität des Staates, sind auf zentralen Feldern der Politik längst ausgehöhlt. Am offensichtlichsten ist das zu erkennen, wenn Troika-Mitglieder, die mächtige internationale Organisationen repräsentierten, und nicht die einheimische Bevölkerung Entscheidungen fällen, die legitimerweise allein dem betroffenen Staat zukommen. Denn: Das „vereinigte Volk“ vertritt „nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“ (Immanuel Kant). Der französische Staatspräsident François Hollande hat sich jüngst beklagt, daß „Brüssel“ den Haushalt Frankreichs – eigentlich das Herzstück parlamentarischer Arbeit – zum großen Teil mitbestimmt.

Larmoyanz löst freilich nichts. Erfreulich hingegen ist, wenn David Cameron und maßgebliche britische Konservative eine Rückverlagerung bereits an die EU transferierter Kompetenzen diskutieren. Man darf hoffen, daß auch in anderen Ländern Europas ähnliche Debatten bald stattfinden, wenngleich zu befürchten ist, daß die Euro-Krise weiteren Zentralisierungsbestrebungen Auftrieb verleiht.

 

Reden über Europa

Nach Einschätzung vieler steckt die europäische Staatengemeinschaft in einer tiefen Legitimationskrise. Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wo steht unser Kontinent politisch, wirtschaftlich, militärisch, kulturell, demographisch? Wie kann es weitergehen, in welchen Strukturen, auf welche Horizonte zu? Gibt es Perspektiven für ein einiges Miteinander selbstbestimmter Völker jenseits des ungeliebten Brüsseler Zentralismus? In dieser Folge der JF-Serie beleuchtet der Politikwissenschaftler Felix Dirsch Genese und Verfall der Staats- und Volkssouveränität. (JF)

 

Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, ist im Schul- und Hochschuldienst sowie in der Erwachsenenbildung tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über Christi Geburt und Astronomie („Mehr als sentimentale Idylle“, JF 51/12–1/13).

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