© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Kritische Stimmen häufen sich
Evangelische Kirche: Die Debatte um eine umstrittene Orientierungshilfe zur Familie geht weiter
Gernot Facius

Die Parallelen sind nicht zu übersehen: Die Wucht der Kritik an der Familien-„Orientierungshilfe“ der Evangelischen Kirche in Deutschland gleicht dem Sturm der Entrüstung, der 1965 auf die Veröffentlichung der EKD-Ostdenkschrift folgte. Damals trieb der Appell zum Verzicht auf eine Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 einen Keil in das Kirchenvolk, diesmal trifft das Abrücken von der Ehe als einziger Norm, das Plädoyer für ein „erweitertes Familienbild“, das gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern einschließt, auf breiten Widerspruch.

Das Papier (JF 27/13) nährt die Zweifel an der Treue der „Kirche des Wortes“ zu Schrift und Bekenntnis. Es sind, das ist neu, nicht nur die üblichen Verdächtigen aus der eher traditionalistischen Ecke, die sich empört zu Wort melden, es geben auch führende Vertreter des landeskirchlichen Protestantismus ihren Unmut zu Protokoll. Der württembergische Landesbischof Frank Otfried July bedauert sowohl den Inhalt der „Orientierungshilfe“, die „den institutionellen Aspekt der Ehe fast lautlos“ aufgebe, als auch das Verfahren: Der umstrittene Text sei ohne „breite Beteiligung“ zustande gekommen.

Kritiker empfehlen, das Papier zurückzuziehen

Hartmut Löwe, ehemaliger evangelsicher Militärbischof der Bundeswehr und früherer EKD-Bevollmächtiger bei der Bundesrepublik Deutschland und der EU, der in seiner aktiven Zeit über manche Fehlentwicklungen in seiner Kirche hinweggesehen hat, zerriß das Papier buchstäblich in der Luft. Löwe bescheinigte ihm „einen revolutionären Bruch der Kontinuität evangelischer Lehre und gemeinchristlicher Überzeugungen“. Er markierte die größte Schwachstelle der „Orientierungshilfe“: Es werde kein einziger diskutabler theologischer Grund für die Abweichung von allen früheren Äußerungen zu Ehe, Familie und Homosexualität angegeben.

Daß sich die Autoren immer wieder zustimmend auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts berufen, ist für Löwe kein Rechtfertigungsgrund: „Karlsruhe produziert keine göttlichen Dekrete, die als hermeneutischer Schlüssel der kirchlichen Lehre dienen könnten.“ Hartmut Löwe gibt der EKD-Leitung den Rat, das Papier zu korrigieren, „andernfalls werden immer mehr evangelische Christen in ihrer Kirche heimatlos“.

Ähnlich sieht es Joachim Liebig, Kirchenpräsident der Landeskirche Anhalts. Er bemängelt die nachträgliche Bestätigung eines heute landläufigen Eheverständnisses, wonach das Scheitern der Ehe aufgrund wechselhafter Gefühle grundsätzlich legitim sei. Ein evangelisches Orientierungspapier sollte jedoch nicht den Ist-Zustand theologisch deuten, sondern im besten Sinne protestantische Orientierung geben. Dazu gehöre das unbedingte Festhalten am Ideal lebenslanger Treue.

Der Leiter der Evangelischen Nachrichtenagentur idea, Helmut Matthies, kommentierte das „Hauptproblem“ des EKD-Papiers: „Es macht nicht Mut zu dem einzigen Familienmodell, das Zukunft hervorbringt. Im Gegenteil: Wer überlegt, ob er heiraten soll, bekommt durch die EKD Argumente, es besser sein zu lassen. (…) Familienfeindlicher geht es kaum noch.“ Dem EKD-Ratsvorsitzenden empfiehlt Matthies, „das Papier zurückzuziehen“.

Besonders pikant ist, was der frühere Bundesverfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch der Kirche vorwirft: Sie stehe nicht mehr hinter dem im Grundgesetz festgeschriebenen Schutz von Ehe und Familie. Die gesellschaftliche Bedeutung der Ehe könne nur verteidigt werden, wenn es starke gesellschaftliche Kräfte als Fürsprecher gibt. „Zu diesen Kräften kann nicht die evangelische Kirche gezählt werden.“

Es schält sich immer deutlicher heraus: Im Zentrum der Kritik stehen nicht mehr nur die Verfasser der „Orientierungshilfe“, an ihrer Spitze die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD). Die Empörung richtet sich direkt gegen den Rat, das oberste repräsentative Gremium der EKD, geführt vom rheinischen Altpräses Nikolaus Schneider. Er hat das Papier passieren lassen.

ZDF-Moderator Peter Hahne, Theologe und von 1991 bis 2009 Ratsmitglied, sagte der Evangelischen Nachrichtenagentur idea: „Auf welch unterstes Niveau begibt sich der Rat, solch ein trauriges Mode-Allerlei durchzuwinken?“ Die Kirche surfe sich auf den „Wanderdünen des Zeitgeistes“ endgültig ins Abseits.

Kurswechsel führt zu ungewohnten Allianzen

Selbst der ehemalige Bundesminister Jürgen Schmude (SPD), viele Jahre EKD-Synodenpräses, lastet der Ausarbeitung deutliche Schwächen an. Sie mache zwar in verdienstvoller Weise auf die Vielfalt der Formen achtenswerten familiären Zusammenlebens aufmerksam“, schrieb Schmude in der Süddeutschen. Die Unterschiedlichkeit dieser Lebensformen sei aber „den Verfassern leider unwichtig“. Eine schallende Ohrfeige für den Rat.

Der revolutionäre Kurswechsel führt zu ungewohnten Allianzen: Unisono halten evangelische und katholische Theologen den Autoren des Papiers einen laxen Umgang mit der Bibel vor. An die „Kirche des Wortes“ werden immer mehr Anfragen von katholischer Seite gestellt. „Wir stellen uns im Grunde auf den Boden der Heiligen Schrift und halten das für normativ“, sagt der katholische Theologieprofessor Peter Schallenberg.

Gerade flehentlich bitten der Kölner Kardinal Joachim Meisner und die Bischöfe von Limburg und Regensburg, Franz-Peter Tebartz-van Elst und Rudolf Voderholzer, die evangelischen Kirchenleiter: „Kehrt bitte auf den Boden der Heiligen Schrift zurück! Welchen Sinn soll Ökumene haben, wenn das gemeinsame Fundament der Heiligen Schrift nicht mehr ernst genommen wird.“

Die Autoren der „Orienterungshilfe“, so Meisner, begäben sich „in eine äußerst heikle Nähe zu den Pharisäern, die einst ebenfalls zu Jesus kamen, um die Ehe zu relativieren“. Jesus habe sie jedoch ermahnt: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“ Der Kardinal konstatierte einen „tiefen Riß in der Ökumene“.

Daß evangelische Theologen wie Hartmut Löwe öffentlich die Hoffnung äußern, „daß Rom in den Fragen von Ehe und Familie evangelischen Verirrungen nicht folgt und als authentische Stimme hörbar bleibt“, auch das ist ein bemerkenswerter Vorgang. Bislang kam vor allem von protestantischer Seite die Klage, es ginge in ökumenischen Dingen nicht voran. Diese Klage, das zeigt sich am Beispiel der „Orientierungshilfe“, scheint müßig, wenn christliche Gemeinsamkeiten aufgekündigt werden.

Ist der derzeitige EKD-Rat zu Korrekturen bereit? Er hat noch eine Denkschrift zum Reizwort Sexualität auf der Agenda. Sie dürfte, kommentierte die Katholische Nachrichten-Agentur, „jetzt auf noch größere Aufmerksamkeit stoßen, als dies beim Thema ohnehin schon zu erwarten gewesen wäre“.

 

EKD-Orientierungshilfe

Die umstrittene Orientierungshilfe zur Familie (Titel: „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“) des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) umfaßt 160 Seiten. Sie gliedert sich nach einem Vorwort des EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider in neun Kapitel, angefangen von „Zusammenfassende Thesen“ bis „Empfehlungen“. Erarbeitet wurde der Text von einer Kommission unter Leitung der ehemaligen Bundesfamilienministerin Christine Bergmann und der emeritierten Soziologieprofessorin Ute Gerhard (Schwerpunkt: Frauen- und Geschlechterforschung).

Das EKD-Papier im Internet:

www.ekd.de/download/20130617_familie_als_verlaessliche_gemeinschaft.pdf

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