© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Viel gewollt, wenig erreicht
Kinderbetreuung: Ab August haben alle Kinder unter drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kita / Zehntausende Plätze fehlen
Christian Schreiber

Deutschland hat auf diesem Gebiet jahrzehntelang gepennt.“ Familienministerin Kristina Schröder (CDU) nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um den Ausbau von Kindertagesstätten geht. Sie setzt noch einen drauf und kritisiert im gleichen Atemzug ihre eigene Partei, in der es „ungerechtfertigte“ Vorbehalte gegeben habe.

Gebannt schaut die Politik auf den 1. August 2013. Denn dann haben alle Kinder unter drei Jahren, deren Eltern berufstätig sind, einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertagesstätte. So hatte es im Herbst 2008 die damals noch regierende große Koalition aus CDU und SPD mit großer Mehrheit im Bundestag verabschiedet. Auch die Fraktionen von FDP, Grünen und Linkspartei stimmten mehrheitlich dafür.

Wenige Wochen vor dem magischen Datum fehlen in Deutschland immer noch mehrere zehntausend Plätze. Vereinbart ist, daß für durchschnittlich 39 Prozent der Kinder unter drei Jahren ein Platz vorhanden sein soll.

Warnung vor einer Flut von Klagen

Nach Schätzungen des Städte- und Gemeindebundes gab es Anfang 2013 aber noch immer eine Lücke von 150.000 Plätzen. Schon jetzt scheint klar, daß das angestrebte Ziel nicht zu erreichen sein wird. Der Städtetag hat seine Mitglieder bereits darauf eingeschworen, daß es vermehrt zu Klagen und finanziellen Forderungen nach Schadenersatz kommen wird.

Zwar dürfte nicht jede Klage Aussicht auf Erfolg haben, aber Juristen raten dennoch dazu, jede Möglichkeit zu prüfen. Wesentlich aussichtsreicher sei es beispielsweise, die Mehrkosten für eine selbst organisierte private Ersatzbetreuung einzufordern. Einer Mutter aus der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz ist dieser Rechtsweg bereits geglückt.

Die Lehramtsreferendarin bekam in einer städtischen Kita keinen Platz für ihre zweijährige Tochter. Erst nach sechs Monaten klappte es. In der Zwischenzeit brachte die Klägerin ihre Tochter in einer privaten Betreuung unter. Die Kosten hierfür verlangte sie von der Stadt zurück, da es in Rheinland-Pfalz bereits einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder ab zwei Jahren gibt.

In den vergangenen Monaten sind private Kita-Einrichtungen und Angebote von Tagesmüttern wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Qualität droht dabei auf der Strecke zu bleiben. Dies liegt vor allem an einem gravierenden Mangel an Fachkräften, der für viele Einrichtungen ein enormes Problem ist. Nicht immer können alle freien Stellen besetzt werden, nicht immer haben die Kommunen die Möglichkeit, sich zwischen mehreren Bewerbern zu entscheiden. Auf die spezielle Qualifikation einer Fachkraft, auf ihre Begabung im Umgang mit Kindern kann die Einrichtung dabei kaum noch Rücksicht nehmen.

Gleichzeitig sinkt der Druck auf die Erzieher, sich von sich aus weiterzubilden oder Zusatzqualifikationen zu erwerben. Die Zahl der Tagesmütter und -väter ist binnen drei Jahren um zwölf Prozent gestiegen. Und in den Kitas werden zunehmend Mitarbeiter eingesetzt, die fachfremd sind oder nur eine abgespeckte Ausbildung besitzen. Fast 20.000 solcher Mitarbeiter gab es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bereits vor einem Jahr. Und die Zahl steigt rasant.

Noch immer werden weitere Zehntausende Fachkräfte gebraucht. Weil die Ausbildung von Erziehern jedoch mindestens drei Jahre dauert, läßt sich diese Lücke in nur einem Jahr nicht mehr schließen. Das Familienministerium plant deshalb, Tagesmütter und -väter zu engagieren, die ihre Ausbildung in Form eines sechswöchigen Lehrgangs absolvieren können. Schon heute haben 40 Prozent der in diesem Bereich Beschäftigten keine entsprechende Ausbildung.

Es stellt sich zwangsläufig die Frage, ob diese Entwicklung dem Kindswohl dient. Der Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Thomas Rauschenbach, glaubt dies jedenfalls nicht: „Je besser ein Erzieher ausgebildet ist, desto mehr profitieren die Kinder, die er betreut. Wir haben großen Nachholbedarf was die Qualität der Erziehung angeht“, sagte er gegenüber dem Deutschlandfunk.

Rauschenbach und andere Pädagogen glauben, daß es den Kita-Kindern im Land helfen würde, wenn in Zukunft ein Hochschulstudium für Erzieherinnen Standard wäre. Das zuständige Ministerium verweist darauf, daß bundeseinheitliche Erziehungsstandards ab 2020 geplant sind. Den jetzigen Kita-Kindern hilft dies wenig. Sie werden dann bereits im Grundschulalter sein.

Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg hat eine Studie veröffentlicht, die sich mit der Situation der in diesem Bereich Berufstätigen auseinandersetzt. „Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist überdurchschnittlich gestiegen und die Zahl der Arbeitslosen überdurchschnittlich zurückgegangen“, heißt es dort. Weiter seien vor allem der sehr große Frauenanteil und der damit zusammenhängende große Anteil der Teilzeitbeschäftigten bemerkenswert.

Insgesamt leben in Deutschland derzeit rund 2,2 Millionen Kinder im Alter von unter drei Jahren. 472.000 davon besuchen eine Kindertagesstätte, rund 86.000 werden bei Tagesmüttern untergebracht. 96 Prozent der Beschäftigten sind weiblich.

Die Autoren der Studie glauben, daß der Beruf nach wie vor als nicht sonderlich attraktiv angesehen wird. „Nur ein Viertel der derzeit Beschäftigten kann sich vorstellen, bis zur Rente als Erzieherin zu arbeiten. In anderen Dienstleistungsberufen liegt dieser Wert deutlich höher.“ Dabei könne ein Verbleib des Fachpersonals nicht unerheblich dazu beitragen, den Fachkräftebedarf zu befriedigen.

Mittelfristig „könnten“ für Tätigkeiten im Bereich der Kindererziehung zudem sowohl bei Ausländern als auch bei Männern „Potentiale mobilisiert“ werden, resümiert die Studie und kommt zu dem Ergebnis, daß das derzeitige Qualifikationsniveau hoch ist. Allerdings sei der Anteil an Hochschulabsolventen relativ gering. Es gelte diesen Standard nun zu halten, beziehungsweise auch noch auszubauen.

Fragen des Kindswohls führen ein Schattendasein

Wissenschaftliche Belege dafür, daß eine akademische Ausbildung der Kindergärtnerin auch ihren Schützlingen etwas bringt, gibt es bislang nicht. Das liege allerdings daran, daß das Fach, das entweder Frühpädagogik oder Kleinkindpädagogik heißt, noch „relativ neu“ sei, sagte Peer Pasternack, Direktor des Instituts für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, gegenüber der Welt.

Das Geschäft mit der Kindererziehung ist nicht sonderlich lukrativ. Auch daher scheuen sich viele Menschen, ein entsprechendes Studium anzugehen. Bisher verdient eine Gruppenleiterin im Durchschnitt gerade mal 1.800 Euro brutto im Monat. Thomas Rauschenbach fordert daher, daß sich die Arbeitgeber – Kommunen, kirchliche und private Träger – künftig gut qualifiziertes Personal mehr kosten lassen.

Ungeklärt ist, wer die entstehenden Kosten für besser qualifiziertes Personal tragen soll. Nach derzeitiger Regelung wären dies die Kommunen. Doch deren Kassen sind leer. Dessen ungeachtet sieht Familienministerin Schröder Bundesländer und Kommunen bei der Bereitstellung von Kita-Plätzen in der Pflicht und unterstreicht, daß allein von März bis Anfang November 2012 insgesamt 260 Millionen Euro Bundesgelder für neue Kita-Plätze bewilligt wurden. Damit, so Schröder, sei bis auf einen „kleinen Rest praktisch das gesamte Sondervermögen des Bundes für den Kita-Ausbau fest verplant“.

Fern der vieldiskutierten Kosten steht die generelle Frage, was für das Wohl der Kinder am besten ist, im Schatten. Die vom Bundesfamilienministerium geförderte ,„Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ (Nubbek) hat vor einem Jahr festgestellt, daß Kinder im Alter von ein bis drei Jahren am besten zu Hause aufgehoben wären – sofern das soziale Umfeld stimme. Anderenfalls sei eine Betreuung besser. Allerdings sei die Qualität in mehr als der Hälfte der Einrichtungen unzureichend.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen