© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

„Die Zuhörer haben sich weggeschmissen“
Zum Schreien: Tagebuchergüsse aus Teenagerzeiten öffentlich vorgetragen
Bernd Rademacher

Donnerstag

Nach „Poetry-Slam“ mit unbekannten Literaten und „Science-Slam“ mit originellen Wissenschaftlern gibt’s jetzt was Neues: Diary-Slam. Da lesen Leute aus ihren alten Tagebüchern vor. Der neue Renner in den Clubs von Hamburg bis München. Schon lustig. Als Teenies wären die Leute ausgerastet, wenn Unbefugte ihre Tagebücher gelesen hätten, jetzt lesen sie selbst daraus vor, und das auf der Bühne vor Publikum. Mal morgen hingehen.

Freitag

Beim Diary Slam gewesen. Zum Schreien! Die breiten die Höhepunkte ihrer pubertären Peinlichkeiten aus. Fast nur Frauen dabei, aber auch ein paar Kerle. Haha, diese jahrzehntealten Notizen über Probleme und Pickel :-)

Am meisten haben alle über Betty gelacht. Sie hat Mitte der Neunziger mit 16 in ihr Tagebuch geschrieben: „Ich habe alle Briefe von Anton verbrannt. Ich wollte die Asche vom Wind forttragen lassen, aber ich habe die Windrichtung falsch eingeschätzt und jetzt sind die Briefreste alle auf unserer Terrasse verteilt.“ Die Zuhörer haben sich weggeschmissen!

Schon heftig, wenn die Teilnehmer vorlesen, wie sie als Teenies wochenlang „voll depri“ waren und an Selbstmord gedacht haben. Aber wie man ja sieht, haben sie es überlebt.

Samstag

Tagebücher scheinen echt der Trend zu sein. Ella-Carina Werner und Nadine Wedel aus Hamburg haben aus ihrer Idee mit dem Diary Slam gleich ein Buch gestrickt. Der Titel klingt vielversprechend: „Ich glaub’, ich bin jetzt mit Nils zusammen.“ Werd’ ich mir mal besorgen.

Der Journalist Jeff Kinney aus Amiland hat mit dem fiktiven Tagebuch des zehnjährigen Gregg Heffley sogar einen Bestseller gelandet. Es sind schon acht Folgen von „Gregs Tagebuch“ erschienen und obendrein verfilmt worden. Muß ich haben. Und vielleicht den Film sehen.

Sonntag

Das mit den Tagebüchern interessiert mich immer mehr. Habe gelesen, laut wissenschaftlichen Erhebungen führen über sechzig Prozent aller jungen Frauen zwischen 14 und 24 Jahren Tagebuch! Bei den Jungen sind es nur knapp zwanzig Prozent.

Psychologen meinen, daß „Diaristen“ mehr Kreativität und bessere „Rollenübernahmefähigkeiten“ drauf hätten. Also sich besser selbst darstellen können. Na, toll. Manche halten Tagebuchschreiben sogar für Eigentherapie. Weiß nicht. Was soll an Einträgen wie „Olaf hat mich heute angesprochen. Er hat auch eine Zahnspange. Aber nur oben.“ therapeutisch sein? Leuchtet irgendwie nicht ein.

Montag

Von einer Gegenthese zu dem Therapiemodell gehört. Forscher der Uni Glasgow meinen, daß Tagebuchführen Probleme nur noch schlimmer mache. Mögliche Erklärung: Tagebuchschreiber wühlen länger in ihren Mißgeschicken als andere und kommen so nicht davon los. Finde aber, bei den Slam-Kandidaten merkt man davon nichts.

Dienstag

Auszüge aus den Tagebüchern von Goethe, Ernst Jünger und Victor Klemperer gelesen. Nicht slamtauglich, aber dabei fiel mir auf, daß die nicht nur persönliche Erinnerungen und Klein-Klein sind, sondern auch die Zeitgeschichte abbilden.

Überlegt, ob ich mein Tagebuch auch veröffentlichen soll. Im Zeitalter elektronischer Kommunikation wird das Tagebuch sowieso digital. Mit WordPress kann man im Handumdrehen ein Weblog generieren. Habe im Netz etliche Diary-Blogs gefunden. Viele sind Reisetagebücher von deutschen Studenten im Ausland. Echt lesenswerte Sachen dabei!

Mittwoch

Ich glaube, das mit dem Blog mache ich doch nicht. Sonst lachen die Leser später mal auch über meine Einträge. So wie beim Slam, als diese Petra vorlas, was sie Ende der Achtziger mit 14 geschrieben hatte: „Opas Beerdigung war schlimm. Am Grab mußte ich voll heulen! Aber da war ein Meßdiener mit braunen Locken und grauen (glaube ich wenigstens) Augen. Der war voll süß. Irgendwie ist es ja unpassend, an so etwas auf ner Beerdigung zu denken. Aber ich kann ja nichts dafür. Was tut Opa jetzt wohl gerade? Das würde ich gerne wissen. Hoffentlich dient der Meßdiener Sonntag wieder! “

Aber egal, ob Blog oder Tagebuch mit Vorhängeschloß, das Schreiben trainiert das Nachdenken über sich und den Umgang mit der Sprache.

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