© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

Die Infamie bleibt konstant
Eine gründliche Biographie der Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann gerät zur Denunziationsschrift
Thorsten Hinz

Das hätte ein gutes Buch werden können, denn selten sind die Voraussetzungen so günstig: Ein emeritierter, finanziell unabhängiger Professor, der über Zeit, Fachkenntnisse, Beziehungen und sonstige Möglichkeiten verfügt, um den Gegenstand beziehungsweise die Person seines Interesses zu erschließen. Und diese Person ist wahrlich singulär: Elisabeth Noelle-Neumann, die 2010 verstorbene Grande Dame der Demoskopie, Gründerin des Allensbach-Instituts, Analytikerin der deutschen Kollektivseele, die „Pythia vom Bodensee“ und Trägerin des Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreises 2006.

1916 in Berlin geboren, wuchs sie in einem großbürgerlichen Elternhaus auf. Sie studierte Philosophie und Zeitungswissenschaft und verbrachte 1937/38 ein Austauschjahr in den USA. Ihre Dissertation, mit der sie 1940 promoviert wurde, beschäftigt sich mit den Methoden der amerikanischen Meinungs- und Massenforschung. Dem Angebot von Propagandaminister Goebbels, seine Adjutantin zu werden, wich sie aus (eine glatte Ablehnung wäre unmöglich gewesen), statt dessen arbeitete sie bei der Wochenzeitung Das Reich und der Frankfurter Zeitung. Nach dem Krieg gründete sie das Allensbacher Institut für Demoskopie. Den Kanzlern Adenauer und Kohl war sie eine wichtige Beraterin.

Der Buchautor und Politikwissenschaftler Jörg Becker, Jahrgang 1946, hat ihre 2006 veröffentlichten „Erinnerungen“ als Folie genommen, um erklärtermaßen eine „Anti-Biographie“ zu verfassen. In chronologischer Folge füllt er ihre weißen Flecken und klärt die Widersprüche darin auf. Ein legitimes Verfahren, denn Autobiographien schildern nicht so sehr, wie jemand war, sondern wie er sich sieht oder gern gewesen wäre. Noelle-Neumann macht da keine Ausnahme.

Der Antrieb des Biographen ist das Ressentiment

Becker hat viel geforscht, gelesen, nachgeprüft. Er rückt schiefe Details gerade oder verleiht ihnen schärfere Kontur. Seinen Anspruch, den „Hintergrund ihres öffentlichen Lebens“ auszuleuchten, erfüllt er dennoch nicht. Sein Antrieb ist das Ressentiment. Er will Elisabeth Noelle-Neumann nicht verständlich machen, sondern demontieren und ihren Ruf zerstören.

Bereits der Titel wirkt wie ein Alarmruf: „Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus“. Becker gibt sich als Kind der „US-amerikanischen Wissenschaftssozialisation“ zu erkennen. Amerikanische Medienwissenschaftler, Emigranten aus Europa, hätten ihn auf den „Antisemitismus“ in Noelle-Neumanns Dissertation aufmerksam gemacht. „Sie drängten mich außerdem dazu, ein kritisches Buch über Elisabeth Noelle-Neumann zu schreiben. Das versprach ich ihnen.“ Der in Erfüllung dieses Auftrags entstandene Befund ist eindeutig: Die Delinquentin war „national-konservativ, deutschvölkisch, antiparlamentarisch, ständestaatlich, antisemitisch und (...) einem autoritären Führer-Gefolgschafts-Denken verhaftet“. Auch mit der Neuen Rechten habe sie geflirtet. Überdies würde ihre wissenschaftliche Potenz weit überschätzt.

Als Widerständlerin hat Noelle-Neumann sich nie ausgegeben. Becker weist nach, daß sie in der NS-Studentenschaft aktiv war. Ein verschwiegener Skandal? Nein! Noelle-Neumann gehorchte bis zu einem gewissen Punkt den äußeren Zwängen, um sich die noch schlimmeren Zwänge – etwa den Beitritt zur NSDAP – zu ersparen und Distanz zu wahren: ein populäres Überlebensmodell, das nicht nur in Diktaturen praktiziert wird.

Becker hat weiterhin herausgefunden, daß ihr das Propagandaministerium aktuelles Material für die Dissertation zur Verfügung stellte. Der Vermittler ist anrüchig, aber schwerer wiegt, daß eine junge Studentin auf Anhieb die bahnbrechende Bedeutung der amerikanischen Meinungsforschung erkannt, reflektiert, in Deutschland bekannt gemacht hat. Und wie ist es um ihren „Antisemitismus“ bestellt? Becker zitiert eine Rezension von 1941, in der es heißt, Noelle-Neumann habe die „dunklen Hintermänner“ der US-Presse – also die Juden – ungenügend berücksichtigt. An anderer Stelle zitiert er ihren Satz, daß die Juden „Amerikas geistiges Leben monopolisiert“ hätten. Das ist eine Übertreibung, aber nicht antisemitisch, denn der Anteil von Juden an der Meinungsproduktion in den USA war in der Tat signifikant hoch.

Mit bissigem Unterton berichtet er, daß sie nach dem Krieg Kontakte zu westlichen Geheimdiensten suchte und die französische Besatzungsmacht bei der Gründung des Institut in Allensbach Pate stand. So lagen im besiegten Deutschland nun mal die Machtverhältnisse, mit denen man sich arrangieren mußte. Zum Arrangement gehört auch, was Becker als weiteren Skandal verkündet: Noelle-Neumann habe ihren Entnazifizierungsbescheid manipuliert, um 1950 die Einreisevisa für die USA zu erhalten. Sie stufte sich von der „Mitläuferin“ zur „Unbelasteten“ hoch.

Warum sollte sie Skrupel haben? Die Journalistin Margret Boveri hat 1948 solche Praktiken als notwendig für das Überleben bezeichnet: „Der Zonenuntertan fälscht das Dokument, um noch ungeschoren nach Hause zu kommen.“ Becker, dem Untertan neuen Typs, fehlt dafür die historische Empathie. Er hat den US-Machtdiskurs – der den bundesdeutschen Antifa-TÜV einschließt oder absorbiert hat – so sehr verinnerlicht, daß ihm jeder andere Standpunkt unzugänglich und ihm nur die Empörung darüber bleibt, daß Noelle-Neumann für sich die geistige und moralische Unterwerfung verweigerte. Von der amerikanischen Machtpolitik in der Hitler-Zeit hat er keine Ahnung. Auch das kennzeichnet ihn als typischen Vertreter seiner Zunft.

Er zählt methodische Fehler in diversen Erhebungen Noelle-Neumanns auf, ohne zu berücksichtigen, daß die Demoskopie seinerzeit eine sehr junge Wissenschaft war. Dubiose Publizisten wie Bernt Engelmann und Otto Köhler führt er als Kronzeugen gegen ihre Theorie der Schweigespirale an. Er empört sich, daß Noelle-Neumann sich einen elitären Habitus bewahrte und den „mündigen Bürger“ bezweifelte. Sie verfügte nun mal über das Privileg des Vergleichs und hat daraus ein konstantes Menschenbild abstrahiert. Sie wußte, daß der eifernde Nationalsozialist zum kämpferischen Demokraten mutieren kann – und umgekehrt. Oder, um es mit Ernst Jünger zu sagen: „Die Infamie bleibt konstant. Damals fragten sie nach der jüdischen Großmutter und heute mit der gleichen Lust danach, ob einer Pimpf in der Hitlerjugend geworden war.“

Schade, was ein gutes Buch hätte werden können, ist ein Steinbruch für künftige Biographen geblieben.

Foto: Die 22jährige Elisabeth Noelle nach Rückkehr vom Studium in den USA 1938: Große Bedeutung der US-Meinungsforschung erkannt / Elisabeth Noelle-Neumann (links) mit Allensbacher Institutsmitarbeitern und Bundeskanzler Adenauer 1950: Wichtige Beraterin

Jörg Becker: Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus. Schöningh Verlag, Paderborn 2013, gebunden, 369 Seiten, Abbildungen, 34,90 Euro

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