© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

Familienpolitik
Wir können besser ohne
Birgit Kelle

Als im Jahr 2011 das Statistische Bundesamt in Wiesbaden seinen Bericht „Wie leben Kinder in Deutschland?“ veröffentlichte und den verheerenden Rückgang der Kinderzahlen in unserem Land dokumentierte, beeilte sich der Staatssekretär im Familienministerium, Josef Hecken, zu betonen, wie wichtig deswegen eine „nachhaltige Familienpolitik“ sei. Nachhaltig, ja, das ist ein Schlagwort, das wir gerne benutzen, vor allem wenn es um die Zukunft unserer Kinder, unseres Landes und natürlich unserer Umwelt geht. Es soll betonen, daß wir nicht nur für den jetzigen Augenblick oder die restliche Legislaturperiode bis zur Wiederwahl Politik machen, sondern in die Zukunft schauen, verantwortungsvoll handeln im Hinblick auf die kommenden Generationen.

Sollten diese dann noch existieren. Sieht man sich nämlich den demographischen Wandel in unserem Land an, dann schrumpft die kommende Generation massiv, und die ältere Generation wächst. Dieser Trend hält seit Jahren an und wird sich in den kommenden Jahren auch noch verstärken. Denn all die Mädchen, die heute nicht geboren werden, werden morgen auch keine Kinder bekommen. Die Politik weiß es. Doch was wäre überhaupt eine nachhaltige Familienpolitik, die dem entgegentritt?

Eine, bei der Familien besonders nachhaltig, also lange zusammenbleiben? Das wäre durchaus wünschenswert. Eine stabile Familie, die Verantwortung für die Generation der Kinder und auch für die Generation der Eltern übernimmt, entlastet den Staat und schafft Vertrauen in die Zukunft. Generationenübergreifend. Tatsächlich brechen Familien heute schneller auseinander denn je, die Trennungs- und Scheidungszahlen steigen, Einsamkeit im Alter ebenfalls. Nachhaltigkeit der Politik, um diesen Trend zu stoppen, ist nicht erkennbar.

Vielleicht meint nachhaltige Familienpolitik aber auch, daß wir möglichst viele Familien haben sollen. Dem Ziel kommen nahezu alle Parteien mit einem Definitionsgerangel um den Familienbegriff nahe. Inzwischen ist ja alles Familie, was sich danach anfühlt. Vor lauter Angst, irgend jemanden durch eine klare Familiendefinition auszugrenzen oder gar zu diskriminieren, wird er so weit aufgeweicht, daß sich jede Studentenwohngemeinschaft inzwischen als Teil des modernen Familien-Happenings begreifen kann und niemand mehr ausgeschlossen ist. Während also Familie heute neuerdings überall ist, bezeichnet man die eigentliche Kernfamilie von Mutter, Vater und Kindern inzwischen als Auslaufmodell. Leider läßt sich Familie im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz dadurch gar nicht mehr fördern, es sei denn mit der Gießkanne. Nachhaltigkeit? Wohl eher nicht.

Möglicherweise bestünde Nachhaltigkeit in der Familienpolitik am ehesten darin, möglichst viele Kinder in unserem Land hervorzubringen, um den Bestand der Generationenfolge zu sichern. Dann wären wir familienpolitisch allerdings komplett gescheitert. Und das, obwohl man sich doch solche Mühe gibt, alles richtig zu machen. In regelmäßigen Abständen erscheinen neue Berechnungen und pompöse Zahlen, wieviel wir in Familie investieren, wie sehr wir sie unterstützen. Über 150 familienpolitische Instrumente, Milliardenbeträge. Also wirklich, keine Frage, der Staat gibt vor, alles zu tun, um die Geburtenrate im Land zu erhöhen, dennoch übersteigt sie die Marke von 1,4 nicht. Und das nachhaltig.

Wofür brauche ich als Individuum noch die Familie, wenn sich der Staat meiner annimmt, wenn ich Hilfe brauche? Unter dem Vorsatz, soziale Politik zu machen, haben wir die Familien unter ein Joch gezwungen. Der Nanny-Staat lebt – aber er stirbt dabei aus.

Wenn es also eine sichere Erkenntnis gibt, dann die, daß Geld offensichtlich keine Kinder produziert. Das Gegenteil scheint sogar der Fall. Die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten bekommen die meisten Kinder, die gutsituierten Doppelakademikerhaushalte die wenigsten. Müßte es nicht genau andersherum sein, wenn es am Geld hinge? Oder nehmen wir die Krippenplätze: Gemeinhin wird ja gerne angenommen, daß wir nur mehr Krippenplätze haben müßten, dann würden auch automatisch die Kinder geboren, um diese zu füllen. Auch hier gilt genau der Umkehrschluß. In den neuen Bundesländern, wo die Infrastruktur der Krippen am besten ausgebaut ist, werden noch weniger Kinder geboren als im großen Rest der Republik.

Die Diskussion um die Frage, was der Staat alles machen muß, oder was er soll, verläuft dabei immer wieder wie bei der Frage nach dem Huhn und dem Ei. Was war zuerst da? Die Not und Inkompetenz der Familien, so daß der Staat eingreifen muß? Oder der Eingriff des Staates, der zur Folge hatte, daß die Familien weniger leisteten und somit wieder der Ruf nach dem Staat ertönte?

Ist es überhaupt die richtige Frage, was der Staat machen soll, um den Ausfall von bisherigen Familienleistungen auszugleichen? Nach dem Subsidiaritätsprinzip wäre doch die einzig richtige Frage: Was muß der Staat tun, damit die Familien ihre ureigene Aufgabe wieder voll erfüllen? Es sind zwei ganz unterschiedliche Denkansätze, die auch völlig unterschiedliche Handlungsaufgaben des Staates nach sich ziehen würden.

So betrachtet, scheint es, als sei die Intervention des Staates in die Familien, die Hilfe, die Unterstützung, sogar das größte Problem unserer Familienpolitik. Wer braucht noch Familie, wenn der Staat von der Wiege bis zur Bahre Aufgaben der Familie ersetzt? Wir erleben derzeit eine Politik, die sich darauf fokussiert hat, Familie nicht nur zu unterstützen, sondern vielmehr überflüssig zu machen. Hier gilt kein Subsidiaritätsprinzip mehr, hier herrscht bereits die totale Vereinnahmung. Verbunden mit dem Vorwurf: Familien können es einfach nicht. Der Staat ist neuerdings der Profi. Der massive Krippenausbau, verbunden mit der Aufforderung, die Kinder doch bitteschön nach zwölf Monaten dort auch unterzubringen. Zu ihrem Besten natürlich.

Krippe als Familienersatz. Erziehung als Staatsaufgabe. Immer mehr 24-Stunden-Kitas in Großstädten – nicht einmal der Schlafplatz ist mehr sicher in der Familie verortet. Tagesmütter statt echte Mütter. Betreuung statt Liebe. Leih­omas, die man bezahlt, statt der eigenen. Ganztagsschulen mit subventioniertem Frühstück und Mittagessen in der Schule, anstatt Mahlzeiten im Familienkreis. Kochkurse in der Schule, anstatt heimischer Herd. Betreute Hausaufgabenhilfe in der Schule, anstatt Unterstützung am Küchentisch. Ergotherapie anstatt Erziehung. Mehr Männer in Kitas, anstatt Papa daheim. Mehrgenerationenhäuser für Fremde, anstatt Großfamilie. Kopie statt Original. Wofür brauche ich als Individuum noch die Familie, wenn sich doch der Staat meiner annimmt, wenn ich Hilfe brauche? Der Nanny-Staat lebt – aber er stirbt dabei aus. Wie die Lemminge stürzen wir uns damit in den demographischen Abgrund.

Die Lösung des demographischen Untergangs besteht möglicherweise gar nicht in einem Mehr, sondern im Weniger an Staat. In einer Familienpolitik, die nicht immer mehr Instrumente schafft, sondern statt dessen immer mehr abschafft.

Unter dem guten Vorsatz, soziale Politik zu machen, haben wir die Familien tatsächlich unter das Joch des Staates gezwungen, in dem sie unfrei sind in der Art, wie sie ihr Familienleben gestalten. Der soziale Staat erstickt nahezu die Eigenverantwortung der Familien, ihren Zusammenhalt, aber auch ihre finanziellen Möglichkeiten – und somit ihre Freiheit.

Schleichend hat unsere Gesetzgebung dafür gesorgt, daß Familie als Faktor nicht mehr relevant ist. Waren Kinder früher noch ein Garant für eine Alterssicherung, hat unser staatliches Rentensystem die elterliche Erziehungsleistung herabgestuft zu einem persönlichen Luxus und hat Familie mit Kindern zum Risiko für die Alterssicherung werden lassen. Das Unterhaltsrecht erleichtert heute nicht den Bestand der Familie auch in schwierigen Zeiten, sondern fördert die leichte Trennung, mit der Folge, daß vor allem Frauen und Kinder ins Netz des Sozialstaates fallen. Und manchmal lohnt es sich sogar, sich zu trennen, wenn bei der Berechnung von Sozialleistungen zwei Haushalte angeführt werden können.

Die Lösung des demographischen Untergangs besteht möglicherweise gar nicht in einem Mehr, sondern im Weniger an Staat. In einer Familienpolitik, die nicht immer mehr Instrumente schafft, sondern statt dessen immer mehr abschafft. Eine Familienpolitik auf dem Bierdeckel, so wie sie Friedrich Merz einst für die Berechnung der Einkommensteuer vorschwebte. Weg mit den 150 Förderinstrumenten, deren Wirkung sowieso keinem mehr klar ist. Wer der Familie mehr vom eigenen Geld läßt, muß ihr nicht mühsam in unzähligen Einzelleistungen wieder Geld zuführen. Wer ihr die Verantwortung für das eigene Leben überläßt, der muß sie dann auch nicht übernehmen, weil sich keiner mehr verantwortlich fühlt – und mit dem Geld der Allgemeinheit bezahlen. Wer ihr die Erziehung der Kinder läßt oder diese sogar einfordert, der muß die flächendeckenden Krippen nicht bezahlen. Es ist ein teures System, das wir uns hier leisten. Doch wer wird es noch bezahlen, wenn immer mehr Kinder fehlen?

Wir sollten das Abenteuer Freiheit wagen. Damit würde der Wert von Familie steigen. Weil sie mehr ist als ein gemeinsames Dach über dem Kopf und ein gefüllter Kühlschrank. Blut ist immer noch dicker als Wasser, aber es nutzt nichts, von Generationenverantwortung zu reden, wenn sie nirgendwo mehr gelebt wird. Es nützt nichts, von Zusammenhalt zu sprechen, wenn Kinder, Eltern, Geschwister und Großeltern ihren Tag zunehmend unabhängig voneinander verbringen. Wo soll die heutige Kindergeneration noch Familienwerte erfahren? Was wird sie später selbst an Werten weiterreichen? Und mit welchem Recht können wir von den heutigen Kindern noch verlangen, daß sie sich später selbst und zu Hause um die Pflege ihrer Elterngeneration kümmern, anstatt diese Verantwortung in „professionelle Hände“ abzuschieben, wenn wir die Kinder heute in die „professionelle“ Obhut der Krippen übergeben, anstatt sie zu Hause aufwachsen zu lassen?

Birgit Kelle, Jahrgang 1975, arbeitet als Journalistin und Publizistin. Die Mutter von vier Kindern ist Vorsitzende des Vereins „Frau 2000plus“ sowie Vizepräsidentin der „New Women for Europe“. Auf dem Forum schrieb sie zuletzt über das Verhältnis von Mann und Frau („Es ist kompliziert“,  JF 48/12).

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