© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

Symbol des Widerstands
Türkei: Die Proteste rund um den Istanbuler Taksim-Platz nagen an Erdoğans Popularität
Hinrich Rohbohm

Ein gellendes Pfeifkonzert setzt ein, als sich die Polizisten den mehreren zehntausend Demonstranten auf dem Istanbuler Taksim-Platz nähern. Sie haben ihre weißen Helme aufgesetzt, tragen Schutzschilde und Gasmasken. Panzerwagen und Wasserwerfer-Fahrzeuge fahren vor. Ein nichts Gutes ahnen lassendes Brummen ertönt aus dem Inneren des Wasserwerfers. Plötzlich schießt eine naßweiße Fontäne in die Menge, trifft mehrere Demonstranten. Schreie. Panik bricht aus. Leute rennen davon, stolpern und fallen zu Boden – während die türkische Polizei weiter vorrückt. Sie drängt immer mehr Menschen in die Seitenstraßen ab. Vor dem Ottoman Palace Hotel, an dessen Eingangstür bereits die Scheiben gesprungen sind, bildet sich eine Menschentraube. Eine junge Frau rettet sich in die Lobby des Hotels, von dort in einen der Fahrstühle.

„Schon wieder“, schimpft sie, noch völlig außer Atem, während sie sich ihre bei der hektischen Flucht durcheinandergewirbelten blondgefärbten Haare aus dem Gesicht streicht. Die 32jährige hatte bereits eine Woche zuvor gegen die Politik des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdoğan protestiert. Schon da hatte die Polizei den Platz geräumt, war mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern gegen Regierungskritiker vorgegangen. „Es war schrecklich, unfaßbar, die haben einfach drauflosgeschlagen“, schildert sie der JUNGEN FREIHEIT. Vier Menschen waren dabei gestorben, mehrere hundert wurden verletzt. Das harte Vorgehen der Polizei erntete im Ausland harsche Kritik. Auch in Deutschland. Von einem Aussetzen der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist nun die Rede. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Ankara sind angespannt.„Erdoğan ist ein Faschist, ein Diktator“, schimpft die junge Mutter. In den vergangenen Jahren habe sich die Türkei immer stärker in einen islamischen Staat verwandelt. „Unsere Freiheit wird immer mehr eingeschränkt, das dürfen wir nicht hinnehmen“, sagt die Frau, für die der Taksim-Platz ein Symbol des Widerstands geworden ist.

„Von den Unruhen profitiert nur New Yorks Finanzlobby“

Die Proteste hatten Ende Mai ihren Anfang genommen. Anhänger der Gruppe Taksim Solidarität protestierten gegen Bauarbeiten in dem zum Taksim-Platz gehörenden Gezi-Park, von dem Teile einem Einkaufszentrum und einer Moschee weichen sollen. Der Ort ist heikel. „Vor 1915 war der Platz überwiegend von Christen bewohnt“, erklärt Jamil Diarbakerli, Büroleiter der Assyrisch Demokratischen Organisation (ADO) in Istanbul, gegenüber der JF. Ein Teil des an den Platz grenzenden Gezi-Parks diente Armeniern bis 1930 als Friedhof. Als die Bagger anrollten, um Mauern abzutragen und Bäume herauszureißen, regte sich Widerstand. Die Polizei war mit Tränengas gegen die Protestler vorgegangen. Nun solidarisieren sich auch die Aleviten mit den Parkschützern. „Nachdem bekannt wurde, daß die Erdoğan-Regierung eine neue Bosporus-Brücke nach Sultan Selim benennen möchte, sind auch sie nicht gut auf Erdoğan zu sprechen“, sagt Diarbakerli. Sultan Selim, so Diarbakerli weiter, stehe für zahlreiche Pogrome und Verfolgungen der Aleviten während des 16. Jahrhunderts. Auch die türkische Linke versuche nun, den Konflikt für sich zu instrumentalisieren. Angesichts des sich verschärfenden Syrien-Konflikts sei eine geschwächte Türkei in ihrem Interesse.

Kommunisten bringen auf dem Taksim-Platz ihre Parteizeitung unter die Leute, verteilen rote Nelken an Protestierende. Sie haben sich am Eingang zur Metrostation postiert, drücken Ankommenden ihr Werbematerial in die Hand. In der Auseinandersetzung mit der Polizei haben die demonstrationserfahrenen Linksextremisten inzwischen die Führungsrolle übernommen, bilden den harten Kern des Widerstands gegen Erdoğan. Am Nachmittag vor der Demonstration haben Kemalisten eine Mahnwache für Ethem Sarisülük organisiert. Der 27jährige sei Mitte Juni von Polizisten per Kopfschuß getötet worden, so die Darstellung der Demonstranten. Die sechs Männer haben ein Feld mit kleinen Türkei-Fähnchen abgesteckt, in dessen Mitte Trauernde rote Rosen werfen.

Auch Hakan, ein vollbärtiger Mann um die Vierzig mit schwarzem, lockigem Wuschelkopf, protestiert gegen die Regierung. Einsam steht er in der Mitte des Platzes und hält ein Schild hoch. „Einander umarmen“ steht darauf. Genau das tut er. Wer ihn anspricht, wird von ihm lange und intensiv in den Arm genommen. „So will ich die Polizei zum Ende der Gewalt aufrufen“, erklärt er.

Doch nicht alle Protestler sind friedlich. Als die Sicherheitskräfte den Platz räumen wollen, fliegen Flaschen auf Panzerfahrzeuge und Polizisten. Tage zuvor warfen einige Demonstranten Steine und Molotowcocktails gegen die Einsatzkräfte.

Jenseits des Bosporus, im asiatischen Teil Istanbuls, herrscht ein anderes Milieu. Im Stadtteil Üsküdar ist das Bild von vollverschleierten Frauen, alten Moscheen und Mekka-Pilgerläden geprägt. Der Bezirk gilt als Hochburg der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Erdoğan soll hier ein Haus besitzen, erzählen die Einheimischen. Auf dem sich über den Bezirk erhebenden Çamlıca-Hügel soll demnächst eine der größten Moscheen der Welt gebaut werden. Zehntausend Gläubige sollen in dem islamischen Gotteshaus Platz finden. „Erdoğan hat meine hundertprozentige Unterstützung“, sagt ein junger Mann, der ein Wasserpfeifen-Geschäft in einer der zahlreichen Gassen betreibt, die von der Hauptstraße abzweigen. „Bei den Protestlern handelt es sich doch um linke Revolutionäre, die unser Land destabilisieren wollen“, erklärt er. Daß sich die Polizei nicht immer korrekt verhalten habe, sieht auch er so. Aber: „Die Demonstranten wollen sie ja auch provozieren, die Sorge um den Gezi-Park ist nur Vorwand.

„Im Stadtteil Ümraniye sind die Ansichten radikaler. „Uns geht es wirtschaftlich gut, Erdoğan hat unser Land nach vorn gebracht. Von den Krawallen profitiert doch nur die Finanzlobby in New York“, ist ein  Restaurantbesitzer überzeugt. Frauen halten sich hier mit Äußerungen stark zurück, wollen sich nicht zu den Vorgängen rund um den Taksim-Platz äußern. „Das sind doch Minderheiten. Ich bin sicher, wenn wir über die Gestaltung des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks abstimmen lassen, bekommen diese Leute keine Mehrheit“, meint ein kleiner älterer Mann mit grauem Haar und grauem Schnauzbart. „Diese Leute kennen keine Ehre, ich habe nur Verachtung für sie“, meint er.

Fotos: Widerstand: In Istanbul verschaffen Zehntausende ihrem  Unmut über die türkische Regierung Luft, Konfrontation zwischen Polizei und Demonstranten: Sicherheitskräfte  drängen die Erdoğan-Gegner vom Taksim-Platz in die Nebenstraßen, Mahnwache: Kemalisten erinnern an den Tod des Demonstranten Ethem Sarisülük

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen