© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

Doppelter Vorteil
Sozialpolitik: Eine weitere Erhöhung des Rentenalters auf 69 soll den gesetzlichen Beitragssatz und die Rentenhöhe nachhaltig stabilisieren
Michael Wiesberg

Nach der unter SPD-Sozialminister Franz Müntefering eingeführten Rente mit 67 soll es nun die Rente mit 69 richten – das zumindest ist der Tenor der Studie „Demographie und Rente“ des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI). Auftraggeber ist die „überparteiliche“ Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Daß deren Hauptfinanziers die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie sind, erklärt wohl die etwas einseitige Behandlung des komplexen Themas.

Analyse der Untiefen des demographischen Wandels

Auch die Präsentation der Studie durch den INSM-Chef Wolfgang Clement – einst Arbeitsminister unter Gerhard Schröder – sollte niemand von der Lektüre abhalten, denn allein die präsentierten Szenarien der Entwicklung des Rentensystems bis zum Jahr 2050 bieten genug Diskussionsstoff. Bemerkenswert ist vor allem, daß der umlagefinanzierten Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) nicht mehr die Existenzberechtigung abgesprochen und im Verweis auf kapitalgedeckte Systeme die Lösung aller Probleme versprochen wird.

Die Studie will zeigen, wie das GRV-System durch die „Untiefen des demographischen Wandels“ geschifft werden kann. Die Antwort hierauf werde nach Clement von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gegeben. Ein funktionsfähiger Arbeitsmarkt sei die Voraussetzung, um sowohl die Beitragssätze – derzeit mit 18,9 Prozent niedriger als 1985 – als auch die Rentenhöhe auf einem „akzeptablen Niveau“ zu halten. Werde nichts unternommen, ergebe sich bei konstantem Rentenniveau im Jahr 2030 ein Beitragssatz von 29,1 Prozent.

Dies könne nur vermieden werden, wenn die „Altersgruppe 54plus“ besser in den Arbeitsmarkt integriert werde. Nur dann könnten die Folgen der geringen Geburtenraten bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung kompensiert werden. Eine längere Lebensarbeitszeit bietet einen doppelten Vorteil: Wer arbeitet, zahlt in die GRV ein und entlastet die Rentenkasse gleichzeitig dadurch, noch kein Rentenempfänger zu sein. Vier Maßnahmen seien für ein zukunftsfähiges Rentensystem unverzichtbar: Erstens die Einstellung aller Formen der Frühverrentung. Zweitens Weiterbildung unter dem Stichwort „Lebenslanges Lernen“. Und drittens die kontinuierliche Anpassung des Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung. Ein Teil der „hinzugewonnenen Lebensjahre“ müsse „aktiv am Arbeitsmarkt“ verbracht werden.

Die vierte Forderung nach einem flexibleren Kündigungsrecht klingt nach dem altbekannten Wunschzettel der INSM-Finanziers. Doch hier ist damit gemeint, ein Beschäftigungsverhältnis auch dann fortsetzen zu können, wenn das gesetzliche Rentenalter erreicht ist. Das ist eine im öffentlichen Dienst und in Großunternehmen nicht zu unterschätzende Problematik. Flankiert werden müßten die vier Maßnahmen durch stärkere Anstrengungen, möglichst alle Schulabgänger in eine Ausbildung und in einen qualifizierten Arbeitsplatz zu bringen. Zudem sei wesentlich mehr Frauen „nach Familie und Kindern“ der Weg zurück in den Beruf zu ebnen.

Daß die steigende Lebenserwartung und das Renteneintrittsalter in einem Spannungsverhältnis stehen, ist keine neue Erkenntnis. Eine formale Erhöhung des Renteneintrittsalters schafft zunächst keine zusätzliche Beschäftigung. Entscheidend ist das tatsächliche Rentenzugangsalter – und das steigt seit 15 Jahren an. Bei Frauen sind es im Schnitt 63,2 Jahre, bei Männern 63,8 Jahre. Für die bestens abgesicherten Beschäftigten bei Bosch oder VW lassen sich sicherlich zusätzliche produktive Arbeitsjahre organisieren, ebenso im öffentlichen Dienst.

Doch die Studie unterschlägt, daß die GRV nicht nur durch demographische Entwicklungen in Gefahr gerät. Für viele junge Arbeitnehmer sind mittlerweile „atypische“ oder „prekäre“ Beschäftigungsverhältnisse, also Teil- oder Kurzzeitstellen Realität. Diese „Jobs“ – etwa ein Fünftel der Beschäftigten – schmälern die GRV-Beitragsbasis zusätzlich. Der traditionelle sozialversicherungspflichtige Vollarbeitsplatz mit Tariflohn – ohne aufstockende Hartz-IV-Leistungen – befindet sich langsam, aber sicher auf dem Rückzug. Der Niedriglohnsektor entwickelt sich daher zu einer nicht zu unterschätzenden zusätzlichen Herausforderung für die GRV.

Daß die RWI-Studie das Thema kapitalgedeckte Privatrente nicht einmal erwähnt, erklärt sich aus den Folgen der Weltfinanz- und Euro-Krise. Die Ergo-Versicherung sieht sich inzwischen sogar gezwungen,  Kapitallebensversicherungen ohne Garantiezins anzubieten. Das neue Produkt garantiert dem Kunden lediglich noch den Erhalt aller gezahlten Beiträge zum Rentenstart. Um so dringlicher scheint der Erhalt der GRV.

Dennoch markiert die Forderung nach der „Rente mit 69“ nur eine weitere Etappe auf dem Weg rententechnischer Flickschusterei. Am wirklich neuralgischen Punkt direkt anzusetzen – dem nachhaltigen Geburtenrückgang in Deutschland – wagt auch das RWI nicht. Denn letztlich können nur mehr Kinder eine wirkliche Stabilisierung der umlagefinanzierten deutschen Sozialversicherungssysteme garantieren.

Studie „Demographie und Rente – Die Effekte einer höheren Erwerbstätigkeit Älterer auf die Beitragssätze zur Rentenversicherung“: www.insm.de/Presse

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