© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

Dem Frust freien Lauf lassen
Brasilien: Wirtschaftliche Schwierigkeiten und Massenproteste setzen linksgerichtete Regierung unter Druck
Michael Ludwig

Die Bilder gleichen sich – Wasserwerfer rücken gegen eine in Aufruhr geratene Menschenmenge vor, Polizisten feuern mit Tränengas und Gummikugeln, Vermummte schleudern Steine und plündern Geschäfte. Nach Griechenland, Chile und der Türkei nun also auch Brasilien. Der südamerikanische Koloß geriet in den vergangenen  Wochen bedenklich ins Wanken und das ausgerechnet während des Konföderations-Pokals der Fifa, bei dem das Land unter weltweiter medialer Beobachtung steht.

Anlaß für die landesweiten Unruhen, die bislang zwei Todesopfer und zahlreiche Verletzte gefordert haben, war eine geringfügige Erhöhung der Fahrpreise im Nahverkehr um umgerechnet sieben Cent. Die Ursachen liegen aber tiefer. Nach Zeiten eines stürmischen wirtschaftlichen Booms ist in den letzten beiden Jahren das Bruttosozialprodukt so gut wie gar nicht mehr gestiegen, 2012 nur noch um 0,9 Prozent.

Ein Reform-Referendum soll die Massen beruhigen

Gleichzeitig frißt die grassierende Inflation mit 6,7 Prozent an der Kaufkraft der Menschen. Hinzu kommen Mißstände im Gesundheits- und Schulwesen, eine Korruption, die sich in der öffentlichen Verwaltung eingenistet hat, sowie eine hohe Kriminalität in den Metropolen.

Als die linksgerichtete Regierung unter Dilma Rousseff zwei sportliche Großveranstaltungen, den Konföderations-Pokal und die Fußballweltmeisterschaft im nächsten Jahr, ins Land holte, begehrten viele auf. Obwohl die Brasilianer als besonders fußballbegeistert gelten, konnten sie nicht verstehen, daß viele Milliarden für gigantische Stadien ausgegeben werden sollten, obschon die Infrastruktur in den großen Städten infolge mangelnder Investitionen kurz vor dem Kollaps stand.

Diese Empörung machte sich die Organisation „Passe Livre“ (Freie Fahrt) zunutze, die als die Drahtzieherin der gegenwärtigen Proteste gilt. Sie gründete sich 2005 und will durchsetzen, daß die Verkehrsmittel kostenlos benutzt werden können. Ihr politisches Profil ist schwammig. „Wir sind eine soziale Bewegung, die nicht an eine Partei gebunden ist, aber wir sind auch nicht parteienfeindlich“, hieß es in einer Facebook-Stellungnahme. Doch scheint der prononciert linke Einfluß zu dominieren. Bei einem Treffen der vierzig einflußreichsten Mitglieder in einer Bar nahe dem Rathaus von São Paulo stimmte man einhellig die „Internationale“ an.

Die regierende Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) wurde von der Wucht der Demonstrationen völlig überrascht und reagierte ausgesprochen konfus. Als in der vergangenen Woche die „Freie Fahrt“ einen Protestmarsch durch São Paulo ankündigte, erklärte der Bundesvorsitzende der PT, Rui Falcao: „Wir gehen mit der Jugend auf die Straße! Der Kampf des Volkes ist der Kampf der PT!“ Er rief die Anhänger seiner Partei auf, sich eine Stunde früher und nur wenige Meter von dem Versammlungsort der außerparlamentarischen Opposition zu treffen, um den Protest gewissermaßen zu neutralisieren. Nur mit Mühe konnten gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern verhindert werden.

Die Frage, die die brasilianische Gesellschaft nun besonders umtreibt, ist die, wie es weitergehen soll. Regierungschefin Dilma Rousseff hat in einer Fernsehansprache versprochen, sich um die ungelösten Probleme zu kümmern und ein Reform-Referendum angekündigt. Mit Sorge blickt sie auf den bevorstehenden Besuch von Papst Franziskus, der anläßlich der katholischen Weltjugendtage am 22. Juli in Brasilien erwartet wird.

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