© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/13 / 21. Juni 2013

Vor der Rastlosigkeit kapituliert
Die deutsche Schlafforschung hat die Folgen der „24-Stunden-Gesellschaft“ aus dem Blick verloren / Sorge um Ärztenachwuchs
Robert Volkmann

Als sich der neue Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) per Rundschreiben an seine Mitglieder wandte, war ein selbstkritischer Ton unüberhörbar. Man beklagte die bröckelnde Resonanz beim Ärztenachwuchs, was wohl auch der DGSM-Zeitschrift Somnologie anzulasten sei, die zu wenig „attraktive Schwerpunktthemen“ setze.

Dabei ließ die Redaktion im ersten Quartalsheft 2013 „offene Fragen der Schlafmedizin“ erörtern, die belegen, daß das Schattendasein dieser medizinischen Spezialrichtung mitnichten aus journalistischen Vermittlungspannen resultiert. Die deutschen Schlafforscher hätten gesellschaftliche Bezüge ihrer interdisziplinären Wissenschaft aus den Augen verloren. Folgt man der Göttinger Historikerin Hannah Ahlheim und ihrer Studie zur „Vermessung des Schlafs“ (Zeithistorische Forschungen, 1/13), vollzog sich die Selbstbeschränkung auf das Quantifizierbare erst in den vergangenen Jahrzehnten. Zwischen 1930 und 1960 hingegen führten die Arbeiten der Schlafforscher unweigerlich ins Zentrum der „24-Stunden-Gesellschaft“, deren Lebensrhythmus durch Elektrifizierung der Städte und Fabriken, durch die Mechanisierung der Arbeit geprägt war, die die Nacht zum Tag machte.

Rund um die Uhr wurde produziert, konsumiert und gefeiert. Damit erlangte der Schlaf eine soziale Schlüsselstellung, ging es doch um nicht weniger als die optimale Reproduktion individueller Arbeitskraft. Mißlang sie, so Ahlheim, sei „letztlich die alltägliche Leistungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft bedroht“ gewesen. Entsprechend der Bedeutung der Materie habe sich in Deutschland und den USA eine regelrechte „Schlaf-Kultur“ entwickelt, getragen von Medizinern, Sozialplanern, Unternehmern, Psychologen und „Schlafratgebern“, deren Bücher hohe Auflagen erzielten.

Ihre Kernfrage erinnert an den aktuellen Streit der Intelligenzforschung: angeboren oder erworben? Sind die Lebensfunktionen des menschlichen Organismus naturgegeben an den Tag-Nacht-Rhythmus gebunden? Wenn ja, ist der Mensch dann nicht ungeeignet für die „Rationalisierung des Körpers“, die zuerst in den USA von den Zeitkonzepten des Taylorismus diktiert wurde, die den Startschuß für die Fließbandarbeit des „fordistischen Jahrhunderts“ gaben? Oder handelt es sich hierbei um behebbare Anpassungsschwierigkeiten, weil die Bindung des Schlafes an die Nacht lediglich „kultureller Prägung“ entspringt?

Im Zweiten Weltkrieg, als alle Kriegsparteien ihren „Volkskörpern“ Höchstleistungen abverlangten, übernahmen US-Schlafforscher die These ihrer deutschen Kollegen, daß der menschliche Schlaf- und Wachrhythmus „variabel“ sei. Er konnte also aufgrund ihrer Expertisen dem Takt der Rüstungsindustrie angepaßt werden. Das Wirtschaftswunder der Adenauer-Ära konfrontierte die Schlafexperten mit den Kalamitäten von „Unruhe, Hast und Dauerreizung der Nerven“ als Konstanten der modernen Industriegesellschaft. In deren Schlepptau grassierte die „Seuche Schlaflosigkeit“, die nicht nur Schichtarbeiter quälte. Zunehmend machten sich „schlafstörende Medien“ wie Rundfunk und Fernsehen bemerkbar.

Das Leben gegen die Uhr, als „amerikanische Rastlosigkeit“ wahrgenommen, trieb die Krankheitsrate in die Höhe, verursachte Magengeschwüre und Herzinfarkte. Die Arbeitsphysiologie habe diese Inhumanitäten totaler Ökonomisierung transnational durchaus erfaßt und sei beim Gesetzgeber bemüht gewesen, dem Individuum größere Freiräume zu erwirken. Doch der Einsatz für den gesunden Schlaf als „Verteidigung von Privatheit“ sei in der Schlafmedizin auch vor 60 Jahren schon dem Ziel untergeordnet worden, den Arbeitnehmer „verfügbar“ zu machen.

Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM): www.charite.de/dgsm/dgsm/ www.dgsm-kongress.de

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