© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/13 / 21. Juni 2013

Das Dollar-System zerstört den Kapitalismus
USA: David Stockmans Abrechnung mit dem kriegerischen Staat und der kapitalistischen Vetternwirtschaft / Obama setzt Bush-Politik fort
Elliot Neaman

Anläßlich des Besuchs von Barack Obama in Berlin zogen wohlwollende Kommentatoren Vergleiche zu dem damaligen Hoffnungsträger John F. Kennedy, der vor 50 Jahren die geteilte deutsche Hauptstadt besuchte. Auch wenn die Begeisterung, die Oba­ma 2008 vor der Siegessäule erfuhr, inzwischen Ernüchterung gewichen ist, kommen nur wenige auf den Gedanken, Obama in eine Reihe mit George W. Bush zu stellen, den bei seiner Berlin-Visite 2002 nur bestellter Jubel empfing.

David Stockman gehört zu jenen amerikanischen Publizisten, die genau das tun: Obama setze die unheilvolle Bush-Politik nahtlos fort. Die Misere begann für ihr allerdings schon mit US-Präsident Richard Nixon. Der Republikaner habe die Planungskompetenz an die US-Notenbank Federal Reserve abgetreten, indem er 1971 die Goldbindung des US-Dollar aufhob. Seitdem mißbrauche die Fed ihre finanzpolitische Macht – und dadurch werde die Wirtschaft vergiftet und deformiert.

Und Stockman, der 1946 in Texas als Sohn eines deutschstämmigen Obstbauern geboren wurde, geht noch weiter. Auch Ronald Reagan ist dran – obwohl Stockman als dessen Leiter des Office of Management and Budget die Reaganomics mitformulierte. Stockman agierte als Verfechter einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, die davon ausgeht, daß sich durch drastische Steuersenkungen Investitionen und Wirtschaftswachstum ankurbeln lassen. So entstehe Wohlstand, der dann bis in die unteren sozialen Schichten durchsickere.

Daß schon unter Reagan der Verteidigungsetat enorm anstieg, mißfiel Stockman, war er doch überzeugt, daß die Staatsverschuldung das Wachstum ersticken würde. Trotz seines relativ jungen Alters bekundete er seine Grundsatzkritik offen. Das erzürnte den Präsidenten, der ihn deshalb maßregelte. 1985 trat Stockman von seinem Amt zurück und veröffentlichte eine schonungslose Schilderung seiner Erfahrung unter dem Titel „The Triumph of Politics“.

Stockmans neues Erfolgsbuch, „The Great Deformation“, atmet den gleichen leidenschaftlichen Geist, er rechnet mit dem Fed-System seit dessen Anfängen und mit der Deformierung des US-Kapitalismus als Wirtschafts- und Lebensphilosophie schonungslos ab. Als Übeltäter benennt er Politikern und Ökonomen, denen er vorwirft, nicht nur die Grundsätze der freien Markwirtschaft, sondern die Grundlagen der liberalen Gesellschaft zerstört zu haben. Dabei argumentiert er in gut libertärer Manier, durch die Verflechtung zwischen Regierung und Wall Street sei es soweit gekommen, daß Börsenmakler und Spekulanten riesige Geldsummen verwetten konnten, die ihnen nicht gehörten, bis schließlich der Steuerzahler für die Verluste der als „systemrelevant“ oder „too big to fail“ erachteten Finanzinstitute zahlen mußte.

So weit, so vertraut für Leser, die den konservativen Kreuzzug gegen Washington mitverfolgt haben, der die Proteste der Tea-Party-Bewegung gegen die Rettungspakete der Bush- und Obama-Regierungen anfachte. Ein neuer Aspekt, der über das gesamte politische Spektrum hinweg Aufmerksamkeit und Applaus einbringt, ist Stockmans Jeremiade gegen den „Warfare State“ – den Kriegsstaat, als Herzstück seines Rundumschlags gegen die Staatsmacht. Traditionell hadern US-Konservative nicht mit einem mächtigen Staat, wenn er das Budget in den Aufbau einer riesigen Kriegsmaschinerie investiert. Libertäre hingegen halten den Erhalt eines stehenden Heers dieser Größenordnung zur Verfolgung unnötiger imperialistischer Ziele für einen teuren Luxus – und das ist genau auch die Bruchlinie, die sich derzeit bei der Diskussion über das Prism-Überwachungsprojekt (JF 25/13) offenbart.

Stockman äußert ätzende Kritik an seinem Ex-Chef Reagan, der seinen massiven Ausbau des Pentagon nicht mehr wie unter Dwight D. Eisenhower durch Steuererhöhungen und Einsparungen an anderen Stellen finanzierte, sondern durch eine Änderung des Fed-Systems. Die Fed avancierte dadurch zum größten Käufer von Staatspapieren. Diese Marktmanipulation ermöglichte Ausgaben in schwindelerregender Höhe – auf Kosten zukünftiger Generationen.

Reagan übernahm 1981 einen Staatsschuldenberg von 985 Milliarden Dollar, 1987 waren es 2,8 Billionen. Noch schlimmer habe es George W. Bush getrieben, dessen „unsinnige Abenteuer in der unfruchtbaren Weite des Hindukusch und auf den Ebenen von Euphrat und Tigris den dritthöchsten Anstieg der Verteidigungsausgaben seit den Eisenhower-Jahren verursachten“. Die Schulden stiegen von 6,4 auf 11,3 Billionen. Der Friedensnobelpreisträger Obama habe seinen Vorgänger in der Ausweitung des „Kriegsstaates“ noch übertroffen. Stockmans Schlußfolgerung lautet: Regierungen wären weit weniger gewillt, sich auf Kriege wie im Irak und Afghanistan einzulassen, wenn sie dafür Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen durchsetzen müßten.

Stockmans Analyse der Großen Rezession seit 2008 liest sich, als sei sie aus der Feder eines linken Kritikers der kapitalistischen Vetternwirtschaft geflossen. Fed-Chef Ben Bernanke habe panisch auf den Lehman-Brothers-Bankrott reagiert und dem Kongreß ein hysterisches Schreckensszenario an die Wand gemalt, dem zufolge sich eine „Depression 2.0“ nur durch massive staatliche Intervention verhindern ließe. Bush folgte den Empfehlungen seines Finanzministers (und Ex-Goldman-Sachs-Chefs) Hank Paulson und investierte Billionen von Dollar in die Rettung von Banken und Finanzinstitutionen. Stockman glaubt hingegen, es wäre besser gewesen, den Versicherungsriesen AIG in den Konkurs laufen zu lassen und damit leichtsinnige Anleger für ihre Spekulationen mit exotischen Derivaten zu bestrafen. Statt dessen stand die US-Regierung für die katastrophalen Geschäfte mit faulen Krediten ein. Die Großbanken, die nur noch als „Untote“ existierten, erhielten Kapitalspritzen, statt daß man sie eines natürlichen Todes sterben ließ. Die Mehrheit der kleineren Banken, die sich nicht auf irrsinnige Wetten einließen, blieb auch ohne Staatshilfe gesund.

Die Wall Street habe jedoch aus der Krise gelernt, daß große Risiken weitaus lohnender sind als kleine. Laut Stockmans hätte sich die Wirtschaft von alleine erholt, wenn die Regierung sämtliche Rettungsversuche unterlassen hätte. Statt dessen schwächelt die Wirtschaft weiterhin, während die Verschuldung – mit über 16,4 Billionen Dollar allein auf seiten des Zentralstaat – nie zuvor dagewesene Ausmaße erreicht hat.

Stockmans Buch ist eine mit Leidenschaft und Kompetenz verfochtene Erwiderung auf Politiker und Ökonomen wie den Nobelpreisträger Paul Krugman, die für eine (neo-)keynesianische Wirtschaftspolitik eintreten und der Meinung sind, massive Defizite seien nicht nur harmlos, sondern zwingend notwendig, um die Weltwirtschaft wieder anzukurbeln. Ob die Prediger staatlicher Sparmaßnahmen oder die Propheten des endlosen Gelddruckens recht behalten, wird sich in den kommenden Jahren entscheiden. Stockmans Ansicht nach muß der aktuelle Kurs einer Monetarisierung der Staatsschuld mit einem Dollar-Crash und einer Hyperinflation enden.

Stockmans Analyse der Wirtschaftslage liest sich an einigen Stellen wie eine Predigt, was sich vielleicht daraus erklärt, daß er nicht nur Geschichte an der Michigan State University, sondern auch Theologie in Harvard studierte. Stockman schießt sich auch lediglich auf die öffentlichen Ausgaben ein und übersieht dabei, daß nicht etwa der staatliche Schuldenberg, sondern vor allem private Schulden in Form exotischer Finanzprodukte und überschuldete Hausbesitzer die Finanzkrise von 2008 auslösten. Sollte Stockman jedoch wie Max Otte mit seiner Warnung „Der Crash kommt“ (2006) recht behalten, kann niemand behaupten, nicht gewarnt worden zu sein. Falls die weitere Entwicklung seine Thesen widerlegt, dann bewahrheitet sich das alte Bonmont: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco

David Stockman: The Great Deformation – The Corruption of Capitalism in America. Verlag Public Affairs, Jackson 2013, 768 Seiten, gebunden, 35 Dollar

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