© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Rousseaus Geist im alten und neuen Europa
Der Chemnitzer Historiker Frank-Lothar Kroll über den Einfluß des französischen Denkers auf Rußland und Preußen
Thomas Kuzias

Besäßen wir eine Geschichte der Rousseauauffassung in Frankreich und Deutschland“, stellte der junge Fritz Schalk vor über achtzig Jahren fest, „so würden alle Zusammenhänge mit einem Schlage klarer.“ (Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 1930) Diese Worte eines der nach 1945 einflußreichsten deutschen Romanisten kommen einem bei der verwickelten Thematik zur Wirkungsgeschichte des ersten modernen Groß-intellektuellen bisweilen in den Sinn, zumal sie auch für die europäische Rezeption insgesamt gelten.

Neue Einsichten in die erste, alteuropäische Rezeptionsphase eröffnet der Historiker Frank-Lothar Kroll in einer Preußen und Rußland abhandelnden Paralleldarstellung. Das kleine Bändchen macht den erweiterten Eröffnungsvortrag verfügbar, welchen der Autor im letzten Jahr auf einer Rousseau-Tagung an der Technischen Universität in Chemnitz gehalten hatte und die gleichzeitig der zunftgemäßen Verabschiedung Alfons Söllners (Lehrstuhl-inhaber für politische Theorie und Ideengeschichte) diente. Gleichzeitig regen Krolls Darlegungen zu manch interessanter Schlußfolgerung an.

Im Mittelpunkt der Ausführungen und die Parallele anleitend steht die Beschäftigung der Staatsoberhäupter der beiden großen konservativen Ostmächte mit dem Epochendenken des Genfer Philosophen. Friedrich der Große ebenso wie Zarin Katharina II. und ein Teil ihrer führenden Staatsdiener setzten sich intensiv mit Rousseau auseinander. Letztere besorgten gar eigenhändig Übersetzungen ins Russische. Gewissermaßen wird eine einzigartige personale Nähe zwischen Geist und Macht nachvollziehbar, die für das 18. Jahrhundert zwar nicht allgemein, für die betrachteten Staaten aber typisch war und sich als Konstellation geschichtlich bislang nirgendwo wiederholte. Die Kontakte Voltaires – des hoffähigen Gegenspielers Rousseaus – zum aufgeklärten europäischen Machtadel belegen diese aufschlußreiche Haupteinsicht ebenfalls.

Die Reaktionen der gekrönten Häupter den herausfordernden und teilweise extrem provokativen Ideen Rousseaus gegenüber, dies machen Krolls Ausführungen gut nachvollziehbar, waren stets von Toleranz und kritischem Interesse, ja bisweilen von starkem Enthusiasmus geprägt; aber selbst Ablehnung und Unverständnis überschritten recht eigentlich nie die guten Sitten des etablierten alteuropäischen niveau du discours.

Ganz anders in Frankreich, wo Rousseau verfolgt und seine pädagogische Hauptschrift „Émile“ verbrannt wurde, so daß er sich schließlich an den die französische Kultur bewundernden Preußenkönig wandte und um Asyl bat. Dieser gewährte ihm Unterschlupf, half mit Geld, lud ihn nach Berlin ein und erwog gar, dem Franzosen eine „Einsiedelei mit einem Garten“ anlegen zu lassen.

Der Liebhaber der Zarin, Orlov, lud Rousseau ebenfalls auf sein Gut ein. Rousseau jedoch lehnte beides ab. Offenbar konnte er hohen Damen und Herren nicht arglos vor die Augen treten; deren souveräner idealistischer Pragmatismus blieb ihm fremd. Gleichwohl ließ die Zarin später ihren Enkel Alexander im Geiste Rousseauscher Ideale und Ideen erziehen. Das russische Schulwesen wurde ebenfalls durch diese geprägt. All dies wird von Kroll überzeugend vermittelt und auf einen zentralen Gesichtspunkt hin gebündelt: Die je unterschiedliche, im Vergleich zu Frankreich positive Verfaßtheit der beiden Oststaaten ist die Folge der Klugheit und geistigen Aufgeschlossenheit ihrer aufgeklärten Oberhäupter.

Krolls äußerst anregende Ausführungen legen es schließlich nahe, einem Paradox der Rezeptionsgeschichte Rousseaus nachzugehen. Gemeinhin gilt dieser als der „maßgeblichste intellektuelle Wegbereiter“ der Französischen Revolution. Andererseits verweist Kroll nachdrücklich und überzeugend auf den tief in dessen Denken verankerten Sinn für das Partikulare, das organisch Gewachsene, für die historisch einmalige Situation, die sich politischen Ideallösungen entzieht.

Wie also konnte der konservative Rousseau zum Vordenker einer aggressiv universalistischen Umsturzbewegung wie der Französischen Revolution werden? Wäre es überhaupt zur „Vereinnahmung“ Rousseaus im vorrevolutionären Frankreich gekommen, wenn nicht ein entscheidendes Moment seines Denkens den „immer vernehmlicher agierenden revolutionären Aktivisten“ in die Hände gespielt hätte? Dieses Moment, das Axiom seines gesamten Denkens, ist die konsequente Gleichheitslehre Rousseaus, die ihn zum Vater des modernen Egalitarismus machte. Die mächtigen Impulse dieser Gleichheitsideologie trieben den Lauf der Dinge weit über das 18. Jahrhundert hinaus, sorgten für ihre Entfaltung im 19. und ihre verwickelte Zuspitzung im 20. Jahrhundert.

Während Rousseaus Gleichheitsvorstellungen auf Friedrich den Großen noch „sehr spaßhaft“ wirkten (Kroll zitiert diese Stelle ausführlich), verwies erst Nietzsche grimmig auf die bleibende übergroße Gefahr: Die Lehre von der Gleichheit als Bodensatz der Französischen Revolution sei das giftigste Gift, ja das „Ende der Gerechtigkeit“. Für ihn war Johann Wolfgang von Goethe der einzige Kopf des 18. Jahrhunderts, der dieser lockenden Herausforderung überhaupt standgehalten hatte (Götzendämmerung, Nr. 48).

Währenddessen avancierten Karl Marx und der Marxismus als gelehrige Analysten der französischen Eruption zum größten Exporteur der problematischsten Seite des Rousseauismus weltweit, am effektivsten in den abgeschatteten, schillernden Tiefendimensionen zur anthropologischen Begründung ihrer neuen „humanistischen“ Lehre. Die komplementäre und beunruhigende Beobachtung des Romanisten Victor Klemperer, festgehalten in seinem Dresdner Tagebuch, indes lautete: Die „posthume Entlarvung Rousseaus heißt Hitler“.

Und die Exzesse des ungelösten Problems der Gleichheit, wie wir tagtäglich beobachten können, dauern fort; neu ist allerdings, daß ihre Gegner nur noch selten europäischen Antlitzes sind. Sicher löst Krolls lesenswertes Büchlein die starke Forderung Fritz Schalks nach einer alle Zusammenhänge „mit einem Schlage“ klärenden Geschichte der Rousseauauffassungen nicht ein, doch ist es ein Baustein in diesem noch zu vollendenden Gebäude.

Frank-Lothar Kroll: Rousseau in Preußen und Rußland. Zur Geschichte seiner Wirkung im 18. Jahrhundert. Duncker & Humblot, Berlin 2012, broschiert, 64 Seiten, 10 Euro

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