© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Als Stalins Geheimdienstchef mit der Pistole fuchtelte
Vor siebzig Jahren flogen deutsche Fernbomber Angriffe gegen sowjetische Rüstungsbetriebe im Hinterland an der Wolga / Auswirkungen waren gering
Jürgen W. Schmidt

Im Frühjahr 1943 kamen deutsche Luftwaffenoffiziere, die sich um den Chef der Luftflotte 6, Robert Ritter von Greim, scharten, zu der einhelligen Erkenntnis, die Rote Armee nur noch durch eine wirksame Massenbombardierung sowjetischer Rüstungszentren nachhaltig schwächen zu können. Als Schlüsselzentren der sowjetischen Rüstungswirtschaft machten sie das Panzer- und Motorenwerk in Gorki (Nischni-Nowgorod), das Kautschukkombinat von Jaroslawl und die Ölraffinerien von Saratow aus.

Erstmals wurde Gorki rund einen Monat vor der Schlacht von Kursk, in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1943, durch 168 deutsche Bomber angegriffen, die dabei 224 Tonnen Bomben abwarfen. Weitere sechs Angriffe flog man in den folgenden 14 Nächten, wobei insgesamt 654 Bombereinsätze stattfanden und bis zu 14 Flugzeuge verlorengingen.Gemäß Meldungen der „Abwehr“ wurde dabei das vier Quadratkilometer große „Molotow“-Werk in Gorki immerhin so schwer getroffen, daß die Produktion sechs Wochen ruhte. Neben wichtigen Werkshallen seien angeblich Gießerei und Schmiede sowie 800 fabrikneue T-34 vernichtet und fast 15.000 Arbeiter getötet worden.

Neueste russische Veröffentlichungen zeigen jedoch, daß man der „Abwehr“ erfolgreich falsche Informationen unterschob. Zwar wurden bei den Bombardierungen in Gorki tatsächlich eine große Produktionshalle mit Montagefließband, das Ersatzteillager sowie die Gießerei- und Schmiedeabteilung des gegen Fliegersicht gut getarnten „Molotow“-Werkes zerstört. Doch die Menschenverluste waren deutlich geringer und bewegten sich im Bereich von wenigen hundert Arbeitern. Die angeblich 800 vernichteten T-34 waren ebenfalls nur eine Annahme der Abwehr, weil das „Molotow“-Werk damals nur leichte T-70-Panzer (500 Stück monatlich) sowie gepanzerte Fahrzeuge vom Typ BA-64 und Lkw (1.800 Stück monatlich) produzierte.

Obwohl die Produktion in Gorki nie zum Erliegen kam, zeigte sich Stalin nach dem ersten, die sowjetische Führung total überraschenden Luftangriff ernsthaft besorgt und schickte deshalb seinen NKWD-Chef Lawrenti Berija zur Inspektion nach Gorki, wo dieser in einem Panzerzug am Morgen des 7. Juni eintraf. Insbesondere sollte Berija vor Ort erkunden, warum das System der Luftvorwarnung am 4. Juni den deutschen Bomberangriff nicht rechtzeitig bemerkt hatte und die um Gorki stationierten vier Jagdfliegerregimenter demzufolge nicht rechtzeitig gestartet waren.

Berija drohte nach seiner üblichen Art sowohl der Parteiführung von Gorki wie auch dem örtlichen Luftverteidigungsstab mit Kriegsgericht und Erschießung und inspizierte anschließend die Batterien des 784. Flak-Regiments auf dem Gelände des „Molotow“-Werkes, welche zum großen Teil von weiblichem Personal bedient wurden. Die damalige Soldatin Anna Sorokina erinnert sich, daß Berija sich um etwa 18 Uhr Ortszeit gerade in ihrer Batterie befand, als man erneut Luftalarm auslöste. Verblüfft beobachteten die Soldatinnen, wie zuerst Lawrenti Berija und nach ihm seine Leibwächter ihre Pistolen zückten, als könnten sie damit den bevorstehenden deutschen Luftangriff abwehren.

Doch der Alarm galt nur zwei deutschen Ju-88-Höhenaufklärern, welche Luftaufnahmen der angerichteten Zerstörungen anfertigen sollten. Den wegen der bedrohlichen Anwesenheit Berijas diesmal blitzschnell gestarteten 18 Jagdfliegern der 142. Jagdfliegerdivision gelang es jedoch nicht, die beiden deutschen Aufklärer zu vernichten. Dagegen wurden sogar zwei Jäger vom Typ La-5 durch die deutschen Bordschützen abgeschossen. Berija entfernte sich daraufhin wortlos aus dem Panzerwerk.

Die Erdölraffinerien von Saratow unterlagen vom 12. bis zum 27. Juni 1943 acht Luftangriffen von insgesamt 420 Flugzeugen, wobei auch hier die deutschen Erfolge begrenzt blieben. Die beiden Angriffe auf das Kautschukkombinat Jaroslawl scheiterten hingegen, da von der mittlerweile aufgeschreckten sowjetischen Jagdabwehr die Masse der Angreifer jedesmal abgedrängt wurde und nur einzelne Bomber zum Ziel durchbrechen konnten. Spätestens nach der Niederlage in der Schlacht von Kursk vom Juli 1943 lagen die deutschen Flugplätze schließlich so weit westlich, daß die Reichweite der deutschen Bomber für eine wirksame Bekämpfung sowjetischer Rüstungszentren nicht mehr ausreichte.

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