© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Akteure und Zaungäste
Für Freiheit und Einheit: Zur historischen Bedeutung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR
Mathias Bath

Der mitteldeutsche Separatstaat war seit seiner Entstehung 1948/49 ein allein auf die Gewalt der sowjetischen Besatzungsmacht gestütztes und nur von einer kleinen, hinter der Besatzungsmacht stehenden Minderheit in der Bevölkerung betriebenes Zwangsregime, das von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurde.

Ein Beleg hierfür sind die Flüchtlingszahlen. Allein in den ersten drei Jahren der Existenz der DDR verließen rund 675.000 Menschen den Herrschaftsbereich der SED. Die Sowjets und ihre einheimischen Gefolgsleute zogen hieraus aber nur den Schluß, den eigenen Herrschaftsbereich im Frühsommer 1952 gegenüber dem Westen abzusperren, Widerstand durch Justizterror zu brechen und im übrigen ihren ideologischen Zwangsvorstellungen freien Lauf zu lassen. Im Juli 1952 beschloß die 11. Parteikonferenz der SED den planmäßigen „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR, verbunden mit ehrgeizigen Industrieprojekten insbesondere in der Schwerindustrie, militärischer Aufrüstung und vor allem – um dies alles zu erwirtschaften – einer gnadenlosen Ausbeutung der Bevölkerung.

Besonders die Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent vom 28. Mai 1953 löste große Empörung in der Arbeiterschaft aus. Nachdem bereits am Vortag in Berlin erste Streiks und Protestdemonstrationen erfolgt waren, kam es am 17. Juni 1953 in 373 Städten und Ortschaften der DDR zu Demonstrationen und Unruhen, an denen sich bis zu 1,5 Millionen Menschen beteiligten. Die Herrschaft der SED brach weitgehend zusammen. Die Führung der SED begab sich am Vormittag auf sowjetisches Verlangen in deren Hauptquartier nach Berlin-Karlshorst und stellte sich unter den Schutz der Besatzungsmacht. Auf das weitere Geschehen dieses Tages hatte sie keinerlei Einfluß.

In Berlin zogen Zehntausende zum „Haus der Ministerien“, dem Sitz der DDR-Regierung in der Leipziger Straße, und belagerten ihn. Weitere Zentren der Erhebung waren Bitterfeld, Halle, Leipzig, Merseburg, Magdeburg, Jena, Gera, Brandenburg/Havel und Görlitz. Hier waren die Ereignisse zum Teil weitaus heftiger als in Berlin. Teilweise stürmten Demonstranten dort sogar öffentliche Gebäude und Gefängnisse. Einige derartige Versuche wurden indes mit Waffengewalt abgewehrt, wobei es Tote und Verletzte unter den Aufständischen gab.

Die Demonstranten forderten den Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Öffnung der Grenze nach Westdeutschland und die Verbesserung der Lebensverhältnisse in der DDR.

Im Laufe des Vormittags wurden zunehmend sowjetische Truppen nach Berlin und in die anderen Zentren des Aufstandes verlegt, die schließlich ab den Mittagsstunden gewaltsam gegen die Demonstranten vorgingen. In Ost-Berlin wurde um 13 Uhr der Ausnahmezustand verhängt. Die Demonstrationen wurden gewaltsam aufgelöst oder von Panzern – insbesondere am Potsdamer Platz – über die Sektorengrenze nach West-Berlin abgedrängt. Über 167 der 217 Land- und Stadtkreise der DDR wurde der Ausnahmezustand verhängt.Die sowjetischen Streitkräfte setzten insgesamt zwanzig Divisionen zur Niederschlagung des Aufstandes ein.

In Bitterfeld und Görlitz hatten die Aufständischen bereits die „Macht“ übernommen. Die verantwortlichen DDR-Funktionäre in diesen beiden Städten waren entweder verschwunden oder für abgesetzt erklärt worden. In beiden Städten wurden die DDR-Verhältnisse erst durch das Einrücken sowjetischer Truppen am Nachmittag des 17. Juni wiederhergestellt.

Fünfzig Jahre nach dem Volksaufstand unternahm die Bundesstiftung Aufarbeitung es, den damaligen Opfern durch Archivauswertungen ein Gesicht zu geben. Danach haben die Ereignisse des 17. Juni 1953 insgesamt 55 Menschenleben gekostet: 35 Demonstranten, Passanten und Zuschauer, sieben Hingerichtete, acht nach dem Aufstand in Haftanstalten Umgekommene, aber auch fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane. 1.485 Teilnehmer des Aufstandes wurden von DDR-Gerichten zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die letzten Verurteilten wurden erst im Sommer 1963 aus der Haft entlassen.

Der 17. Juni 1953 ist ein bedeutender Tag der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte. Er markiert den ersten Aufstand eines der 1945 unter sowjetische Herrschaft gekommenen Völker. Vom 17. Juni 1953 führt eine historische Kontinuität über Polen und Ungarn 1956, Prag 1968 und ab 1980 wieder Polen zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums 1989/90.

Der Aufstand des 17. Juni stellt somit den Anfang vom Ende des Sowjetsystems dar. Es waren die Deutschen in der damaligen DDR, die hierzu als erste die Initiative ergriffen haben. Hinzu kommt, daß der Aufstand des 17. Juni nicht nur ein Aufstand gegen kommunistische Unterdrückung war, sondern eben auch ein Aufstand für Deutschlands Einheit. Den Hunderttausenden, die damals auf die Straße gingen, war klar, daß die Verbesserung ihrer Lage nur durch eine Wiedervereinigung ihres Landes zu erreichen war. Die Demonstranten, die am 17. Juni 1953 die rote Kommunistenfahne vom Brandenburger Tor holten und durch die schwarzrotgoldene ersetzten, und die Hunderttausenden, die im wahrsten Sinne des Wortes im Angesicht sowjetischer Panzer in der DDR das Deutschlandlied anstimmten, standen nicht nur für den Freiheitswillen, sondern auch für das Nationalbewußtsein – zumindest der Deutschen in der DDR.

Im Westen Deutschlands war der Westintegration der Bundesrepublik schon bald eine Westorientierung ihrer Bewohner gefolgt. Frankreich, die Niederlande oder Italien standen vielen Bundesbürgern allemal näher als ihre Landsleute im Osten. Politiker, die am gesamtdeutschen Gedanken festhielten, wurden angesichts der scheinbaren Unabänderlichkeit der Teilung des Landes spätestens ab den siebziger Jahren als „Sonntagsredner“ abgetan. Hinzu kam, daß die Ereignisse des 17. Juni sich tat- sächlich auf dem Gebiet der DDR abgespielt hatten und die Westdeutschen bestenfalls Zuschauer waren.

So wurde der in der Bundesrepublik als „Tag der deutschen Einheit“ proklamierte Feiertag eher Anlaß für Badeausflüge als für nationale Selbstbesinnung. Nach der durch die friedliche Revolution in der DDR 1989 möglich gewordenen Wiedervereinigung Deutschlands hätte man sich natürlich in ganz Deutschland auf die Tradition des 17. Juni besinnen und an ihr erfreuen können. Doch inzwischen wird immer deutlicher, daß die staatliche Einheit 1990 nur durch die Preisgabe des nationalstaatlichen Gedankens in Deutschland wie auch der deutschen Währung gegenüber den westeuropäischen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges zu erlangen war.

Gerade das macht den 17. Juni aber für die heutige politische Klasse in Deutschland so unbequem. Setzt man hier doch alles daran, unser Land in einem neuen supranationalen Zwangsregime aufgehen zu lassen. Die Lehre des 17. Juni ist jedoch, daß historische Abläufe auch gegenüber übergeordneter Gewalt weiterhin offen sind. Auch die heutige EU muß deshalb nicht das letzte Wort der Geschichte sein.

Foto: Demonstranten auf der Leipziger Straße in Berlin am 17. Juni 1953; sowjetische T-34-Panzer haben die Demonstration gesprengt und werden mit Steinen beworfen (rechts); Plakat der Stadtkommandantur Eisenach (oben): Führung der SED versteckte sich

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