© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Rede, daß ich dich sehe!
Zum Eros gesellt sich die Caritas: In seinen Gedichten läßt Thomas Kunst mit wenigen Tönen die Sinfonik des Daseins erklingen
Sebastian Hennig

Unsere großen Autoren waren stets bestrebt, sich ihre Freiheit zu erhalten. Goethes erste Buchveröffentlichung „Götz von Berlichingen“ erschien anonym, seine Werke wurden in der Folge mal von Weygand, Göschen, Unger, Ettinger, Cotta oder Frommann an die Öffentlichkeit gebracht. Einige Erstausgaben hatten die Buchhandler noch bis zur Jahrhundertwende am Lager.

Daß heute unsere Dichter und Denker ihre „Heimat“ meist nur in einem einzigen Verlagshaus haben, entspricht einer ungesunden Gebundenheit ihres Dichtens und Denkens. Thomas Kunst, einer der lebendigsten Lyriker deutscher Zunge, hat das Kunststück vollbracht, sein Dutzend Bücher seit 1991 in zehn Verlagen erscheinen zu lassen. Er debütierte bei Reclam. Kürzlich erschien „Die Arbeiterin auf dem Eis“ in der kleinen Dresdner Edition Azur. Der Verlag hat einen schönen, würdevollen Band produziert.

Die Themen des Dichters blieben die gleichen: Wein, Weib und elektrische Gitarre. (Die Anmerkungen verzeichnen jene Schallplatten, die beim Schreiben „unabdingbar“ waren.) Die Form hat sich weiter verfeinert. Es ist das Zeichen einer großen Kunst, mit wenigen Tönen die Sinfonik des Daseins erklingen zu lassen. Eine zornige Ohnmacht erlöste sich über die Jahre in einem freien Humor. Die Sehnsucht und die Unmöglichkeit, einen anderen, zumeist weiblichen, Menschen zu bestehen, und der heilige Zorn auf die Hurerei in der Literatur wird in immer sanftmütigere, transparentere Wendungen gefaßt. Zum Eros gesellt sich mehr und mehr die Caritas. Die fast schon kunsthandwerkliche Gekonntheit wird selbst zu einem Stilmittel, wie bei Gottfried Benn in dessen mittleren Lebensjahren, eine Figur der Unausweichbarkeit: „Er ging für dich ins Wasser, Ende März./Vermutlich ist er daran nicht gestorben./Die erste Nacht, die Gnade und die Callas,/Der Hochmut und die Skizze eines Pferds./Du wirst bestimmt bald wieder so umworben./Nur ist es nichts und vorher war es alles.“

Das erste Gedicht beschreibt eine Lebenswanderung den Strand entlang. Sie wird geleitet von vergeblicher Liebeserwartung, doch währenddessen hat sich eine Kameradschaft längst eingestellt und in der Fürsorge für das inzwischen zweijährige Kind wird ein Lächeln zurückgeschenkt. Kunst entfaltet seine Empfindungen – wie heroisch ist es, heute sentimental zu sein! – mit romantisch-ironischer Distanz, ohne von seinem Verlangen abzurücken.

In der sprechenden Makellosigkeit seiner Sonette ist er ein Petrarca des 21. Jahrhunderts, der den Mont Ventoux des Prekariats bestiegen hat, um von diesem als ein Freier über freies Land zu blicken. Wenn der Sinn seiner Verse Kapriolen schießt, steckt doch immer ein Sinn dahinter. Nie löst sich eines seiner zahlreichen Wortspiele von den Bedeutungsgrundlagen, mit denen der Leser im Fortgang des Lesens immer vertrauter wird, von Vers zu Vers, von Gedicht zu Gedicht, von Buch zu Buch. Es ist nicht Einverständnis gefordert mit einer Aussage. Doch es wird der Wunsch genährt, diesem Mann weiter zuzuhören, wenn er spricht, wie er spricht: Dieser Dichter!

Weitere Informationen zu Verlag und Dichter im Internet unter

www.edition-azur.de

www.thomaskunst.de

Thomas Kunst: Die Arbeiterin auf dem Eis. Gedichte und Briefe. Edition Azur, Dresden 2013, gebunden, 136 Seiten, 22 Euro

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