© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Tanz den Silvio Gesell
Sommertagung der „Humanen Wirtschaft“: Angesichts der Euro-Krise diskutierten Zinskritiker über den Zusammenbruch unseres Geldsystems
Petra Knoll

Man ist gewarnt: Sozialdarwinistisch, rassistisch, frauenfeindlich, antisemitisch und antikommunistisch seien die Freiwirtschaftler um Silvio Gesell, behauptet das linke Forum Infopartisan.net. Wird ein Besuch der Sommertagung der „Humanen Wirtschaft“, die sich dem Sozialreformer eng verbunden fühlt, dies bestätigen? „Bricht unser Geldsystem zusammen?“ lautet passend zur Euro-Krise das beängstigende Motto der Konferenz im großen Saal des katholischen Caritas-Pirckheimer-Hauses nahe des Nürnberger Hauptbahnhofes, zwischen Jesuitenmission und katholischer Hochschulgemeinde. Eine Frage, die Kommunisten früher mit ja beantwortet hätten.

„Seit zehn Jahren dominiert der Finanzsektor und preßt die Realwirtschaft aus“, sagt Hauptredner Wolfgang Berger, ein Philosoph und Ökonomieprofessor. Dem würden nicht nur Wähler der Linkspartei oder Mittelständler zustimmen. 40 Prozent der Kosten eines Produktes würden die Zinsen verursachen, so Berger. Nicht nur der Hersteller zahle Zinsen, sondern auch die Vorlieferanten. Wenn man die ganze Wertschöpfungskette durchgehe, komme man auf 40 Prozent Zinskosten, bezogen auf die Gesamtkosten eines Produktes. Details seiner Zinsthese liefert Berger leider nicht, obwohl ein Zuhörer nachfragte.

„Wenn die Zinskosten wegfallen, würde eine 20-Stunden-Woche ausreichen, um den jetzigen Lebensstandard zu erreichen“, so Berger. Sein Tenor lautet: Das Zinssystem sei ungerecht und führe sicher in den Abgrund. Dabei gebe es doch ein Lösung, die überzeugend und so einfach sei: ein zinsloses Geld. „Warum weiß das niemand?“ fragt Berger in die Runde. „Weil es unerwünscht ist. Weil Großinserenten die Zeitung bestimmen. Weil fünf Familien die Presse in der Welt bestimmen. Weil meine Kollegen, die Volkswirte, Scheuklappen haben.“ Dann lobt Berger, der in Karlsruhe das Institut für Organisation und Humanes Management leitet, lokale Parallelwährungen wie den Chiemgauer und Sterntaler, die das regionale statt das globale Bewußtsein förderten. Den Welthandel solle man hingegen auf das Notwendigste reduzieren.

Der Euro-Rettungsschirm ESM sei ein Ermächtigungsgesetz für die Mafia, ein Staatsstreich gegen die Demokratie. Der frühere Bundespräsident Christian Wulff wollte dieses Demokratiedefizit thematisieren und wurde daher zum Rücktritt gedrängt, vermutet Berger. Der Finanzsektor, die zehn reichsten Milliardärs-Familien der Welt würden die Presse und die Politik bestimmen. Leider nennt er nicht die Namen der oberen Zehn – und die etwa 40 Tagungsteilnehmer fragen nicht nach. Auch über die fünf wichtigsten Pressefamilien darf der Interessierte nur spekulieren.

Für die hohe Staatsverschuldung in Deutschland und der Welt macht er die Zinseszinsrechnung und den Finanzsektor verantwortlich. „Und Regierungen, die sich nicht verschulden wollen, werden das nicht überleben. Politiker verunglücken, Flugzeuge stürzen ab“, deutet Berger an. Er führt eine Untersuchung an, ohne Autor und Buchtitel präzise zu nennen. Außerdem fordere die vom Finanzsektor gesteuerte Presse immer Wahlgeschenke, so daß der Staat immer weiter in die Zinsfalle tappe. „Dabei ist die Lösung so einfach“, wirft ein sympathischer älterer Zuhörer ein: „Das fließende Geld“, ein Geld als reines Tauschmittel, ohne Wertaufbewahrungsfunktion. Wenn man keine Zinsen aufs Ersparte bekomme, sondern Gebühren von fünf bis acht Prozent pro Jahr bezahle, dann fließe das Geld schnell in die Wirtschaft zurück, und keiner könne auf Kosten anderer von leistungsfreien Zinserträgen leben.

„Warum werden unsere Erkenntnisse totgeschwiegen?“ ruft er in den Saal. „Gott sei Dank gibt es das Internet, jetzt können sie uns nicht mehr ausschalten“, antwortet ein anderer. „Unser System wird zusammenbrechen wie der Sozialismus. Es wird an seinen inneren Widersprüchen zerfallen wie die vielen Weltreiche vorher.“ Der Zerfallstermin bleibt offen: „Ich gebe keine Prognosen, dafür gibt es zu viele Einflußgrößen.“

Steffen Henke, Finanzkaufmann aus Leipzig, konzentriert sich in seinen Ausführungen auf die Zinseszinsrechnung. Sein Rechenbeispiel: Angenommen Deutschland habe im Jahr 1950 Kredite in Höhe von zehn Milliarden aufgenommen. Bei einem Zinssatz von 7,18 Prozent verdoppeln sich die Schulden bis 1960 auf 20 Milliarden. Zehn Jahre später sind es schon 40 Milliarden, alle zehn Jahre kommt es also zu einer Verdoppelung der Schulden, so daß sich im Jahr 2010 schon 640 Milliarden angesammelt hätten. Um dies zu verdeutlichen, schichtet Henke Plastikbecher auf einen Tisch. Ein Becher symbolisiert eine Milliarde. Gleichzeitig stellt er einen Wecker so ein, daß er alle zehn Minuten läutet. Zehn Minuten – zehn Jahre. Bei jedem Läuten unterbricht Henke seinen Vortrag und schichtet seine Becher zu einer Pyramide auf.

„Ist das wie ein Schneeballsystem?“ fragt ein katholischer Betriebsseelsorger nach. „Wir sind in der finalen Phase“, sagt Henke. Irgendwann fällt die ganze Pyramide aus Plastikbechern wirklich zusammen. Es ist wohl im Jahr 2010. Weltweit gebe es aktuell einen Schuldzins zwischen sieben und acht Prozent. „90 Prozent der Bevölkerung arbeiten für die Zinsen der oberen zehn Prozent.“ Pro Jahr würden in Deutschland 345 Milliarden Euro Zinsen bezahlt, weltweit gar acht Billionen Dollar. Es sei bedenklich, wenn man Kindern ein Sparbuch schenke. Geld könne sich nicht vermehren, nur Menschen, Natur und Maschinen würden arbeiten. Warum die Euro-Sparzinsen derzeit nicht einmal die Inflation decken, erläutert Henke leider nicht.

Zum Schluß tanzt man noch eine halbe Stunde den Silvio Gesell – genauer gesagt, bewegt sich Jonathan Ries zu dessen Ideen. Der Künstler zelebriert nicht die Formen des Herren-Balletts, sondern die eines modernen Bewegungstheaters. Seine Performance entstand aus der „Auseinandersetzung mit Gesell“, erklärt Ries dem Publikum. Dann ertönen Gitarrenklänge, die auf eine ferne Zeit und einen fernen Ort weisen. Knarrende Türen öffnen sich, und schon befinden wir uns bei Robinson Crusoe und seiner Inselwirtschaft. Fiktive Dialoge über Gold, Silber und Edelsteine sind zu vernehmen, Argumente für und wider den Zins tauchen auf, bis schließlich der Tänzer „freies Geld“ verkündet, „ohne Zins, ohne Urzins“. Festliche Chormusik erklingt, später verbreitet sich wagnerianisches Pathos, zu dem Ries Worte wie „befreites Geld, befreites Land“ verkündet. Manchem Infopartisan hätte das vielleicht gefallen – und von Rassisten, Frauenfeinden und Antisemiten war weit und breit keine Spur.

 

Silvio Gesells Freiwirtschaftslehre

Angesichts der Weltfinanz- und Euro-Krise wecken auch randständige Theorien neues Interesse. Dazu zählt die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells (1862–1930), der 1922 in seiner Parabel über „Die Wunderinsel Barataria“ ein „meisterhaftes Lehrstück zur Einführung in eines der schwierigsten Kapitel der Nationalökonomie: der Geld- und Zinstheorie“, verfaßt hat, wie der Euro-Kritiker Joachim Starbatty in einer kritischen Würdigung von Gesells Geldordnung bemerkte. Gesells Kritik an Zins und Zinseszins in seinem Buch „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ gilt als Geburtsstunde der Freiwirtschaftslehre. In der Weltwirtschaftskrise vor 90 Jahren wurden einige Versuche mit zinsfreiem Geld gemacht, so etwa mit den „Freien Schillingen“ im österreichischen Wörgl. In Deutschland gibt es derzeit eine Vielzahl von Regionalgeld-Initiativen – vom „Rheingold“ über den „Sterntaler“ zum „Chiemgauer“.

Die nächste zinskritische Veranstaltung findet vom 12. bis 14. Juli in der Silvio-Gesell-Tagungsstätte in Wuppertal statt:

www.humane-wirtschaft.de

Foto: Oberbayrische Regionalwährung Chiemgauer: Das regionale statt das globale Bewußtsein fördern?

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen