© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Kein Interesse an westlichen Werten
Arabellion: Statt Freiheit und Menschenrechten herrschen in Nordafrika Islamismus und Unsicherheit
Michael Wiesberg

Wir erleben in diesen Tagen, welche Kraft die Idee der Freiheit entfalten kann.“ Voller Zuversicht beleuchtete Außenminister Guido Westerwelle Ende Januar 2011 die Entwicklungen der „Jasminrevolution“ in Tunesien sowie die beginnenden Demonstrationen in Ägypten. Diese, so der FDP-Politiker, seien Ausdruck einer „Globalisierung der Werte, eine Globalisierung demokratischer Prinzipien.“ Was derzeit zu erleben sei, „widerlege“ zudem die „Behauptung“, daß Demokratie und Freiheitsrechte „Länder instabil“ machten.

Im Namen von Demokratie und künftiger Stabilität führten die USA und einige europäische Staaten, allen voran Frankreich und England, im März 2011 Krieg gegen Libyens Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi.

Zwei Jahre später ist in den Ländern der Arabellion wenig Stabilität zu finden. In Tunesien forderte die radikal-islamische Salafistengruppe Ansar al-Scharia die gemäßigt islamistische Ennahda-Regierungspartei heraus und lieferte sich Mitte Mai blutige Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Parallel dazu verstärkte die Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaïd die Bruchlinien zwischen säkularer Opposition und islamistischer Regierung.

Vor allem aber hat sich die Wirtschaftsmisere, Auslöser der Unruhen in Tunesien, seit dem Sturz des Präsidenetn Ben Ali kaum verbessert. „Niemand weiß, wie 800.000 Arbeitslose aufgefangen werden können“, erklärte der tunesische Ökonom und Weltbankberater Hédi Sraieb einem Bericht von swiss.info zufolge Ende März auf dem Weltsozialforum in Tunis. Das Schlimmste, so Sraieb weiter, sei jedoch, daß das „tunesische Wirtschaftsmodell definitiv am Ende“ sei.

In Libyen hat sich die Erdölproduktion nach dem Sturz Gaddafis stabilisiert, doch innenpolitisch kommt das Land nicht zur Ruhe.

So blieb der libysche Parlamentspräsident Mohammed al-Magarief bei einem Attentat (März) nur durch Zufall unverletzt. Dagegen richtete ein der al-Qaida zugerechneter Autobombenanschlag auf die französische Botschaft in Tripolis (April) schweren Schaden an. Ende Mai berichtete Radio Vatikan von einem Sprengstoffattentat auf eine Kirche in Bengasi. In diesem Kontext verwies der Apostolische Vikar von Tripolis, Bischof Giovanni Innocenzo Martinelli, auf die „schwierige Situation der kleinen christlichen Glaubensgemeinschaft in Bengasi, wo radikal-islamisches Gedankengut weit verbreitet“ sei.

Libyen gleicht einem Pulverfaß. Ultimaten zur Abgabe der Waffen werden von den Kämpfern ignoriert. Der Waffenschmuggel floriert. Quintessenz: Bei schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und früheren libyschen Rebellen-Milizen starben am vergangenen Wochenende über 30 Menschen. Undeutliche Machtstrukturen waren bereits im September 2012 aufgetreten, als salafistische Gruppierungen mehrere Sufi-Heiligtümer zerstörten. In diesem Kontext verweist der Nordafrika-Experte Hanspeter Mattes in einem Arbeitspapier über die politische Transformation und Gewalt in Tunesien, Ägypten und Libyen auf den Umstand, daß gerade jene „islamistischen Kämpfer“, die 2012 Teil der Armee oder des mit polizeilichen Sicherungsaufgaben betrauten Supreme Security Committees“ geworden waren, bei der Zerstörung der Sufi-Schreine „nicht“ eingegriffen hätten, sondern die Zerstörungsaktionen „teilweise gedeckt oder durch ihr passives Verhalten erst möglich gemacht“ hätten.

Sorgen bereitet vor allem die südwestliche Grenzregion des Landes, die weitgehend außerhalb staatlicher Kontrolle liegt. Sie dient als Ruheraum islamistischer Kämpfer, die von hier aus Operationen in Niger, Algerien und Mali führen. Angaben von Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zufolge hatte Libyens Ministerpräsident Ali Seidan Ende Mai die Allianz um „Beratung im Sicherheitsbereich“ gebeten.

Vergangene Woche gab Rasmussen bekannt, eine Nato-Expertendelegation nach Libyen zu entsenden. Sie soll bis Ende Juni einen Bericht über die Bereiche vorlegen, in denen die Nato „nützlich sein könnte“, so Rasmussen. Dabei gehe es allerdings „nicht um die Entsendung von Truppen“, sondern Ausbildung und Beratung libyscher Militärs.

Offensichtlich, so die renommierte Politikwissenschaftlerin Sigrid Faath, Herausgeberin der Studie „Islamische Akteure in Nordafrika“, haben die Machtwechsel in Nordafrika zu einem politischen und gesellschaftlichen „Aufschwung für islamistische Organisationen und islamisch-konservative Institutionen“ geführt.

In diesem Zusammenhang sticht vor allem der Machtfaktor Muslimbruderschaft in Ägypten hervor. Dicht gefolgt von der salafistischen Partei des Lichts, hatte deren islamistische Freiheits- und Gerechtigkeitspartei die Wahl gewonnen. Seitdem kommt das Land am Nil nicht aus den Turbulenzen heraus. Wirtschaftlich liegt das Land am Boden, die christliche Minderheit sieht sich zunehmender Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt, und säkulare Kräfte fürchten, daß die Muslimbrüder alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche mit eigenen Leuten besetzen. Als einziges Korrektiv wirkt hier das Oberste Verfassungsgericht, das nach Auflösung des Parlaments im vergangenen Jahr auch dem von Islamisten dominierten Senat (Schura-Rat) die Legitimität abgesprochen hat.

Angesichts der Entwicklungen in Tunesien, Libyen und Ägypten kommt die Nordafrika-Expertin Faath zu dem Schluß, daß die 2011 von den vielen, federführend an den Protesten beteiligten – nichtislamistischen – Demonstranten, geforderte „freiheitlichere Ordnung“ von den Islamisten „nicht unterstützt“ würde. Statt dessen würden „Freiheiten, Rechte, Werte, moralisch-sittliche Aspekte des Zusammenlebens ausschließlich im Rahmen der arabisch-islamischen Identität, der islamischen Gemeinde (Umma), des islamischen Staates und des islamischen Rechts definiert“. Beispielhaft verweist Faath in diesem Zusammenhang auf einen Ausspruch des Chefs der tunesischen Ennahda-Partei, Rachid al-Ghannouchi: „Der islamische Staat ist der Rechtsstaat par excellence, das heißt, die Autorität der Scharia steht über der des Staates.“

Hanspeter Mattes: Politische Transformation und Gewalt in Tunesien, Ägypten und Libyen seit 2011, GIGA Working Papers, No. 219. Sigrid Faath (Hrsg.): Islamische Akteure in Nordafrika, Konrad-Adenauer-Stiftung 2012.

Foto: Salafisten-Aufstand in Tunis (Mai 2013): Der Aufbau einer Zivilgesellschaft findet in Tunesien, Libyen und Ägypten kaum Gehör

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