© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Geschichte, Gedenken und Politik
Ja, wo leben wir denn?
Siegmar Faust

Vor langer, langer Zeit, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrtausends, brachte ein Funktionärssohn der DDR, bewaffnet mit einer Gitarre, eine vollbesetzte Kirche in der Stadt Brandenburg zum Bersten. Der Refrain seines frechen Liedes hieß: „Ja, wo leben wir denn?“ Erst zögernd, dann nach jeder Strophe zunehmend lauter, schrie sich diese Frage aus tausend Kehlen in den heiligen Raum. Den SED-Führern und ihren Stasi-Hunden geriet das zur Katastrophe. Sie waren so wütend wie machtlos. Konnte man in der Gorbatschow-Ära jemanden einsperren, der lediglich zu einer harmlosen Frage anstiftete? Die DDR entledigte sich des Mannes, indem sie ihn mit Frau und drei kleinen Töchtern in den Westen abschob.

Die gewünschte Ruhe kehrte bekanntlich im Osten nicht mehr ein. Die Mauer und der Eiserne Vorhang fielen nicht durch die berühmten Jericho-Trompeten, sondern durch witzige Strophen und kräftig geschlagene Gitarrensaiten. Es dürften jedoch schon jetzt Mehrheiten entstanden sein, die sich weder biblischer noch zeithistorischer Geschichten erinnern können. Und das ist die Kata-Strophe unserer Zeit.

Ohne Erinnerung, ohne Tradition, Religion und kulturelle Verwurzelung sind wir nur Staub im Wind. Das eröffnet Konzernen und Banken jenseits fairer Marktwirtschaft, iPod- und Medientechnikern sowie sozialistischen Politikern aller Parteien Chancen, die Natur des Menschen willentlich zu deformieren. Die Masse zählt, der einzelne ist ein Fliegendreck.

Ines Reich, Leiterin der Potsdamer KGB-Gedenkstätte, rechtfertigte sich kürzlich vor Zeitzeugen gegen den Vorwurf der Verharmlosung des Sowjet-Terrorismus mit dem aufschlußreichen Satz: „Die politischen Rahmenbedingungen sind, wie sie sind: Wir haben eine rot-rote Landesregierung.“

Tja, wo leben wir denn? Nicht Historiker ringen zusammen mit den Zeitzeugen um die Deutung der Geschichte, nein, sozialistische Politiker bestimmen wie in jeder totalitären Diktatur, wie etwas gewesen zu sein hat, um auch die Zukunft nach ihrer Idee herbeizuzwingen. Historiker, die sich solchen Prämissen ergeben, können unmöglich an Philosophen wie Wilhelm Dilthey oder Hans-Georg Gadamer geschult sein, um dem Verstehen und der Wahrheit zu dienen. Doch nur diese macht frei. Und zwar uns alle.

 

Siegmar Faust ist Schriftsteller und Kurator der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus.

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