© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Die Mittelschicht wird ausgehöhlt
Eine ungezügelte Finanzwirtschaft hat die Spaltung der US-Gesellschaft wesentlich beschleunigt
Jost Bauch

Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaft, Chefvolkswirt der Weltbank und Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung hat ein aufsehenerregendes Buch geschrieben: „Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Existenz bedroht“. In diesem Buch setzt er sich insbesondere mit der Wirtschaftspolitik der USA auseinander und beschreibt die gesellschaftlichen Effekte insbesondere in bezug auf die soziale Ungleichheit und deren Folgekosten für die Gesellschaft insgesamt.

Zunächst schildert Stiglitz die ökonomischen Verhältnisse in den USA. Seine Bilanzierung der ökonomischen Ungleichheit fällt geradezu verheerend aus. Er bezeichnet das Ganze als Amerikas „Ein-Prozent-Problem“. Denn mittlerweile gehören einem Prozent der Bevölkerung mehr als ein Drittel des nationalen Gesamtvermögens. Innerhalb dieser Gruppe sind es noch einmal die obersten 0,1 Prozent der amerikanischen Haushalte, die über ein 220mal höheres Einkommen als der Durchschnitt der unteren neunzig Prozent verfügen.

Dabei steigt die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung kontinuierlich an. Vor dreißig Jahren verfügte das oberste eine Prozent der Haushalte lediglich über zwölf Prozent des nationalen Einkommens. Die Disparität wächst. Das Durchschnittseinkommen des obersten einem Prozent lag im Jahr 2007 nach Steuern bei 1,3 Millionen Dollar, während das Durchschnittseinkommen der unteren zwanzig Prozent nur 17.800 Dollar betrug. Die reichsten zwanzig Prozent verdienen dabei mehr als die übrigen achtzig Prozent zusammengenommen.

Stiglitz resümiert: „Die Situation in den USA läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Reichen werden reicher, die Reichsten der Reichen werden noch reicher, die Armen werden ärmer, und ihre Zahl wächst. Die Mittelschicht wird ausgehöhlt. Die Einkommen der Mittelschicht stagnieren oder sinken, und der Abstand zu den wirklich Reichen wächst.“ Das Ergebnis: Der Anteil der Armen stieg von 12,5 Prozent 2007 auf 15,1 Prozent 2010. Jeder siebte Amerikaner bekommt mittlerweile staatliche Unterstützung. Die Lohnquote sinkt dabei nicht nur in Relation zum Bruttosozialprodukt, die Löhne sinken real.

Laut „Gini-Koeffizient“, einem Standardmaß der Ungleichheit, gehören Schweden, Norwegen und auch Deutschland zu den Ländern mit den geringsten Disparitäten in der Einkommensverteilung, die USA liegen irgendwo zwischen der Türkei und dem Iran. Dazu kommt: Fünfzig Millionen Amerikaner sind nicht krankenversichert. Der Gesundheitszustand insbesondere der Armen verschlechtert sich kontinuierlich. In der Lebenserwartung liegen die USA an vierzigster Stelle, direkt hinter Kuba.

Wie kommt es zu dieser starken Ungleichheit in den USA? Für Stiglitz liegen die Ursachen im Marktversagen und in der Politik. Bei der Entstehung der großen sozialen Ungleichheit spielen die Marktkräfte eine große Rolle, aber sie konnten nur im Sinne von sich verstärkender sozialer Ungleichheit wirksam werden, weil das politische System das Ganze zugelassen, ja befördert hat.

Dabei redet Stiglitz keineswegs irgendwelchen Spielarten des Sozialismus das Wort, er propagiert, ganz im Sinne der bundesrepublikanischen „Sozialen Marktwirtschaft“, eine staatlich gezügelte Marktwirtschaft, die nur in gezügelter Form dem Gemeinwohl dienen kann. Zu der zunehmenden sozialen Ungleichheit konnte es kommen, weil die Ökonomie und die Politik ihr Procedere auf die „Finanzialisierung der Wirtschaft“ umgestellt hatten. Die Finanzmärkte wurden wichtiger als die Realwirtschaft und das „Rent-Seeking“ wurde zur vorherrschenden Strategie der Profiterlangung.

Dabei steht die Strategie im Vordergrund, Profite zu erzielen, nicht indem man neue Vermögen schafft, sondern indem man es anderen wegnimmt. Mit der Immobilienblase und der Kreditkartenblase habe sich das obere eine Prozent auf Kosten der Mittelschicht und der Armen bereichert. Der ökonomische Kuchen wurde schlicht und einfach zugunsten der Superreichen neu umverteilt. Damit wurden zwei ökonomische Lehrmeinungen, die die Theorie des Neoliberalismus stützen, ad absurdum geführt.

Die „Trickle-down-Theorie“ (basierend auf Adam Smith) besagt, daß wenn man den Reichen mehr Geld gibt, im Grunde alle davon profitieren, weil das Geld dann volkswirtschaftlich durchsickert und eben auch bei den Ärmeren landet. Das hat sich im Zeitalter des Finanzkapitalismus als glatte Lüge erwiesen. Stiglitz fordert dagegen eine „Trickle-up“-Strategie: Gebt den Ärmeren mehr, das stimuliert die Nachfrage und nützt so langfristig auch den Reichen und fördert das ökonomische Gleichgewicht. Die Finanzialisierung der Ökonomie entlarvt auch die „Grenzproduktivitätstheorie“ der Lüge. Ein hohes Einkommen wäre danach an besondere Produktivität gekoppelt.

Mag dies ansatzweise in der Realwirtschaft so sein, wo reale Werte geschaffen werden, so trifft dies keinesfalls für eine zügellose Finanzwirtschaft zu, wo allenfalls Profitgier und Gerissenheit belohnt werden. Die Kosten dieses finanzkapitalistischen Rent-Seekings sind nach Stiglitz enorm: Das verarbeitende Gewerbe in den USA steht zunehmend auf dem Abstellgleis, weil vor der Finanzkrise im Jahre 2009 etwa vierzig Prozent aller Unternehmensgewinne dem Finanzsektor zuflossen, die Gewinne der Finanzwirtschaft waren dabei unabhängig von Verbesserungen in der Realwirtschaft.

Resultat ist, daß in den USA immer weniger produziert wird. Der Import-überschuß beträgt mittlerweile über 500 Milliarden Dollar pro Jahr. Staatszuschüsse können dieses Defizit nicht für alle Zeiten ausgleichen. Das Problem ist: Der Staat spielt in dieser unproduktiven Umverteilungspolitik munter mit: Der Spitzensteuersatz wurde von 70 Prozent unter Carter auf 35 Prozent unter George W. Bush gesenkt. Gleichzeitig wurden die Kapitalgewinnsteuern von 35 Prozent auf 15 Prozent gesenkt, so daß insgesamt die Steuerbelastung der 400 einkommensstärksten Haushalte 2007 nur 16,6 Prozent betrug, was erheblich niedriger ist als die reale Steuerbelastung der Gesamtbevölkerung von 20,4 Prozent. Ebenso wurden die Erbschaftssteuern minimiert, so daß Stiglitz von den USA als „Erboligarchie“ sprechen kann. Unterstützt wird das Ganze durch eine „asymmetrische Globalisierung“, die die Verhandlungsposition des Faktors Arbeit gegenüber dem Kapital schwächt und letztlich auf einen „Unterbietungswettlauf“ hinausläuft.

Um die Misere zu bekämpfen fordert Stiglitz eine gerechtere Steuerpolitik, eine Geldpolitik im Dienste der Vollbeschäftigung, eine höhere Steuerbelastung für Unternehmen, die nicht investieren, sowie einer Versteuerung des Gewinns, den Unternehmen in den USA erzielen, unabhängig von ihrem Sitz. Vieles von dem, was Stiglitz beschreibt, finden wir auch in noch relativ moderater Form in der Bundesrepublik, so daß uns in gewisser Weise Stiglitz den Spiegel vorhält und beschreibt, was passiert, wenn Deutschland und die EU-Staaten weiter auf den ökonomischen Deregulierungszug setzen. Ein durchweg lesenswertes Buch.

Joseph Stiglitz: Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht. Siedler Verlag, München 2012, gebunden, 512 Seiten, 24,99 Euro

Foto: Straßenszene und die wachsende Zahl von Bettlern und Obdachlosen (kleine Fotos) in Manhattan, New York City: Standardmaß der Ungleichheit wie in der Türkei oder dem Iran

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