© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Es herrschen die alten rußlandhörigen Eliten
Der ukrainische Politologe und Publizist Oleh Romantschuk beklagt die Machtstrukturen in der postsowjetischen Gesellschaft
Lubomir T. Winnik

Als Michail Gorbatschow erkannte, daß seine Perestroika-Politik den Abstieg der Sowjetunion nicht zu verhindern vermochte, richtete er sein Augenmerk auf die Schaffung eines schlagkräftigen Finanzsystems. Sprößlinge der herrschenden Nomenklatura, Söhne und Töchter hoher Parteifunktionäre und des KGB, wurden dabei mit entscheidenden Positionen bedacht oder stiegen in diesem – besonders nach dem Umbruch von 1991 – mächtig werdenden Apperat in leitende Ränge auf.

Heute, unter neuen Staatssymbolen in Putins „gelenkter Demokratie“, bilden sie die herrschende Elite Rußlands. Gleiches gilt für die ehemaligen Sowjetrepubliken, vielleicht mit Ausnahme der baltischen Staaten. In den Führungskadern des Finanzsystems haben die sowjetischen Eliten überlebt. Darüber klagte bereits 2005 der bekannte russische Dissident Wladimir Bukowski gegenüber der polnischen Zeitung Rzeczpospolita.

Diese Klage findet man ebenso in dem Buch „Auf der Suche nach dem Universum“ von Oleh K. Romantschuk, der aus dem westukrainischem Lemberg (Lwiw) stammt. Das eindrucksvolle Werk, über 800 Seiten stark, befaßt sich mit fast allen Problemen der heutigen Ukraine sowie des postsowjetischen Raumes. Der Autor ist eine schillernde Persönlichkeit der Publizistik des Landes, derzeit Dozent am Lehrstuhl für Journalistik an der Iwan-Franko-Universität in Lemberg. Der Doktor der Philologie ist Mitglied des International Press Institute in Wien und hat vor zwanzig Jahren in Lemberg ein einzigartiges Magazin für Politologie, Futurologie, Ökonomie, Wissenschaft und Kultur namens Universum gegründet, dem er noch heute als Verleger und Chefredakteur vorsteht.

Romantschuks Buch ist übersichtlich in mehrere Kapitel geteilt. Gewissenhaft und mit akribischer Präzision analysiert und erklärt der Autor ebenso die komplizierten geschichtlichen Hintergründe, wie auch die daraus entstandenen Zusammenhänge der Gegenwart. Vieles in der Ukraine sei nach 1991 schiefgelaufen. Verantwortlich dafür seien vor allem die Eliten des altes Systems, welche sich neu zu organisieren verstanden. Nach wie vor würden beinahe sämtliche politische Prozesse, explizit in der Ukraine, durch gut ausgebildete Sowjetkader beherrscht und bestimmt.

Oleh K. Romantschuk verweist bei seiner Analyse mehrfach auf Hélène Blanc. Die französische Politologin und Rußlandexpertin hatte in ihrem Buch „KGB Connexion“ die engen Verflechtungen zwischen neuen Machthabern, Geheimdiensten, der Mafia und des „Business“ im heutigen Rußland offengelegt und die daraus folgenden Gefahren für Europa skizziert. Nicht die sowjetischen Panzer und Raketen bedrohten den Kontinent, sondern die schleichende wirtschaftliche und ökonomische Infiltration.

Dieses von Sowjetbürgern russischer Herkunft dominierte System hat auf die Entwicklung der Ukraine bis heute einen verheerenden Einfluß. „Den Kern der heutigen Obrigkeit bildet die ehemalige kommunistische und jungkommunistische Nomenklatur. (...) Der Großteil ihrer Vertreter ist mentalitätsmäßig auf russische imperiale Politik sowie russische Kultur ausgerichtet. Sie benutzen die ukrainische Sprache nicht, kennen die ukrainische Kultur nicht, die Geschichte hingegen haben sie auf den WKPb-Kursen (KP-Partei) studiert“, zitiert Romantschuk aus einem Interview des ukrainischen Parlamentsabgeordneten Iwan Sajec in der Zeitung Moloda Ukraina. So gelang es in der Ukraine, eine „gesteuerte“ Demokratie einzurichten, die im Grunde ein autoritäres System nach neuem Muster ist und nichts mit der wahren Demokratie gemein hat, befindet auch der deutsche Politologe Alexander Ott.

Das System nutze nicht minder erfolgreich die postkolonialen Schwächen der Ukrainer nach Jahrhunderten russischer Gewaltherrschaft aus, meint Romantschuk. Die psychischen und physischen Traumata der vergangenen siebzig Jahre, die Zerstrittenheit eines junges Vielvölker- und Vielreligionenstaates habe die alten Eliten begünstigt. Dazu kam mangelnde Erfahrung der Staatsorganistion bei der Aufbruchsgeneration nach 1991, die sich zudem immer noch im Banne überkommener Ängste vor der alten Obrigkeit befand, welche nach langanhaltendem Terror ihr Selbstverständnis gestört hatte. Die Einführung äußerlicher Attribute wie der nationalen Symbole, in Sowjetzeiten grausam bekämpft, täuschte über diesen Umstand nur hinweg. Die Demokratie in der Ukraine endete eigentlich schon, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Antiintellektuelle Populisten, korrumpierte, unqualifizierte Beamte, notorische Servilisten bis hin zu gewöhnlichen Kriminellen gerieten unter diesen Umständen in Schlüsselpositionen des Staates. Die tatsächliche Macht übten aber weiter die alten rußlandhörigen Eliten aus, die die Kontrolle über das Parlament nie verloren und weiterhin auf die Gerichtsbarkeit Einfluß ausübten.

Jeder Widerstand nationalukrainischer Opponenten wurde hingegen mit allen, auch kriminellen, Methoden bekämpft. Allein in den zwanzig Jahren nach der „Unabhängigkeit“ seien nach Einschätzung der Organisation „Memorial“ fast 3.000 Journalisten, Professoren, Intellektuelle und Wissenschaftler umgekommen. Der Autor stellt fest: „Die gegenüber dem Volk illoyale feindliche Obrigkeit beherrscht den größten Teil des Territoriums.“ Die Hauptursache des heutigen Niedergangs sei „der vierte Genozid, nämlich der geistige“, zitiert Oleh K. Romantschuk den namhaften ukrainischen Journalisten Leonid Kapeluschnyj.

Unter diesen Bedingungen sehe die Zukunft der Ukraine zwar nicht rosig aus. Dennoch resümiert Romantschuk hoffnungsvoll: „Wir haben noch nicht endgültig verloren. Wir verlieren aber pausenlos durch den Mangel an einem willensstarken Potential. Die Gesellschaft aus der Krise herauszuführen, ohne einen allgemein anerkannten Leader, wie dies etwa Mannerheim, Adenauer oder de Gaulle waren, ist schwierig. Die Macht muß in den Händen des Volkes bleiben und den Weg der Wahrheit und nicht der Lüge gehen.“

Oleh T. Romantschuk: Auf der Suche nach dem Universum. Verlag Universum, Lemberg 2013, gebunden, 879 Seiten, 40 Euro

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