© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Komplett in zwölf Bänden
Schönes Geburtstagsgeschenk im Jubiläumsjahr: Die Neue Text-Ausgabe zu Richard Wagner bietet erstmals alle Schriften des Genius seiner Epoche in chronologisch geordneter Reihenfolge
Sebastian Hennig

Die zeitgenössische Antwort auf die Wellen, die Wagners Werk bis in unsere Tage schlägt, läßt sich aufteilen in tosendes Schweigen und stummen Krawall. Offenbar hat dieser furchtlose Mann etwas ausgerufen, was der Nachwelt noch immer in den Ohren schallt. Die Wellen sind nicht mehr so brechend wie einst, da sein frischer Ruhm über den Kontinent eilte. Wenn sie jedoch flacher gehen, so sind sie dafür weit umfassender geworden als zu ihrer Ausgangszeit und um so stiller schweigen und schriller kreischen jene, die nicht nur selbst unbewegt bleiben wollen, sondern auch andere nicht dadurch in Bewegung gesetzt wünschen.

In seinem Fragment „Wir Philologen“ bestimmte Friedrich Nietzsche deren Kunst damit, einfach zu lesen, was geschrieben steht, ohne zu deuten und zu deuteln. Als es zuletzt um Wagner ging, vergaß er es völlig. Die Empfindungen und Erfahrungen, die ihn zu solcher Fehlleistung verführten, müssen wir ehren, ohne das Recht zu besitzen ihm darin zuzustimmen. Es läßt sich nur „über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen … Grundtext … gekritzelt und gemalt wurden“ (so Nietzsches Forderung in „Jenseits von Gut und Böse“), wenn der Grundtext selbst zugänglich ist.

Nach neunzig Jahren gibt es nun wieder eine Gesamtausgabe von Richard Wagners Schriften. Rüdiger Jacobs ist der Herausgeber. Während der Arbeit an seiner Promotion über Richard Wagner als Revolutionär und Staatskritiker spürte er schmerzlich den Mangel einer aktuellen Ausgabe der Schriften. Als er dem Publizisten und Wagner-Kenner Michael von Soden diese Klage vortrug, kehrte der sie unverzüglich in die Forderung, selbst eine neue Ausgabe zu besorgen. Das sollte unter Einbeziehung aller inzwischen aufgefundenen Schriften und in einer angemessenen zeitgenössischen Typographie geschehen. Als Datum für die Fertigstellung wurde zunächst der 125. Todestag Wagners 2008 ins Auge gefaßt – und verfehlt.

Dann aber schien alles ganz schnell zu gehen: Der Verleger Axel Dielmann interessierte sich für das Projekt, die Finanzierungsgrundlage wurde geschaffen und eine Gruppe von elf Helfern leistete Zuarbeit. Doch während unter den Händen des Herausgebers die Textmenge anschwoll, entglitt der Unternehmung die wirtschaftliche Grundlage. Kurz bevor alle Hoffnungen hätten begraben werden müssen, tauchte im Dezember 2012 der Verleger Reinhardt O. Cornelius-Hahn fast schon opernhaft als Editor ex machina auf.

Die erstaunlich rasche Vollendung des umfänglichen Projekts ermöglichte es, das Werk auf der Leipziger Buchmesse vorab zu präsentieren. Hinzu kommt die Genugtuung, daß die Ausgabe nun bei einem Verlag erscheint, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Wagners Geburtsort Leipzig ansässig ist. Cornelius-Hahn ist selbst Autor und Inhaber des Projekte-Verlags Cornelius in Halle an der Saale. Unternehmerischer Schwung verbindet sich bei ihm mit der Leidenschaft für das Buch als lebendiges Kulturgut, und wie in den Zeiten von Göschen, Brockhaus und Breitkopf findet die komplette Umsetzung in der eigenen Hausdruckerei statt.

Pünktlich zum Geburtstag Richard Wagners erscheint die Neue Text-Ausgabe. In elf Bänden sind alle Texte chronologisch wiedergegeben, darunter Erstveröffentlichungen und Übersetzungen aus dem Französischen. Der zwölfte Band enthält Kommentare und Fassungen, eine Synopse, die auf der Doppelseite in vier Spalten biographische, künstlerische, wissenschaftliche, politische und historische Ereignisse in ihrer Gleichzeitigkeit nachvollziehbar macht. Wagner, dessen Leben in etwa vom Wiener Kongreß bis zur Erfüllung der Reichseinheit dauerte, tritt als Genius dieser Epoche hervor, wie es Goethe für die vorhergehende war. Nebenbei wird so auch seine pragmatisch-defensive Selbstmystifizierung neutralisiert (der im übrigen eine ebenso starke Selbstironie entsprach), und sein Werk steht in seiner singulären Gestalt vor uns.

Die unselige Diffamierung des großen Künstlers und politischen Visionärs Wagner lebt hierzulande von der Verschleierung der Quellen. Wer von den Polemikern hat die Wagner belastenden Aufsätze im ganzen gelesen und ihre teilweise verklausulierten Sätze im Zusammenhang ihrer Entstehung zu erfassen versucht? Das ist jetzt einer breiten Leserschaft möglich, denn im Sinne einer wohlfeilen Volksausgabe gibt es neben der gebundenen Ausgabe mit Schutzumschlag auch eine solide Klappenbroschur.

Eine historisch-kritische Werkausgabe der Schriften ist es nicht, aber gerade der Anhangband mit Synopsis und der Versionsgeschichte der einzelnen Schriften ist angetan, auf längere Zeit diese Lücke mehr als nur provisorisch zu verdecken. Ein Personen- und Sachregister sowie ein Schlagwortregister ermöglicht ein schnelles Auffinden der zahlreichen Texte. Ihre Numerierung von „Leubald. Ein Trauerspiel“ (NTA 2) bis „Über das Weibliche im Menschen“(NTA 428) erleichtert das Zitieren. Die zeugende Wirkung der Texte wiegt erst einmal schwerer als die letzte wissenschaftliche Gewißheit.

Nur einen kleinen Teil der Bücher, mit denen Jahr für Jahr der Mainstream der Wagner-Deutung weiter ausgebaggert wird, muß der interessierte Leser opfern, um jene fünfundvierzig Zentimeter Platz zu schaffen für die Neue Text-Ausgabe, in deren Licht das hybride Gefunkel einer spekulativen und erkenntnisarmen Sekundärliteratur weiter verblassen wird.

Zu wünschen ist, daß damit neuer Schwung in das Nachdenken über Wagner kommt. Katharina Wagner deutet die Möglichkeit in ihrem Grußwort an: „Untrennbar zu seinen musikdramatischen Werken gehören für mich die Vielzahl der Schriften, die ich als integralen Teil seiner künstlerischen Produktion verstehe, die auch als Autorenkommentar zum Werk gelesen werden können. Ihr praktischer Nutzen ist meist größer, als auf den ersten Blick anzunehmen wäre ...“

Den Autorenkommentar zum Werk haben wir nun in Originalfassung und Varianten. Nun warten wir weiter auf das Werk in unverstellter Form. Wenn die Ausgabe auch keine Reformation bewirken wird, welche das Deutungsmonopol des derzeitigen Priestertums bricht, um der Gemeinde wieder das lebendige Wort zu überliefern, so wird es doch weit schwieriger werden, fortan mit vergröbernden Unterstellungen im trüben zu fischen.

Neue Text-Ausgabe Richard Wagner, hrsg. von Rüdiger Jacobs, 12 Bände, 5.400 Seiten, gebunden 348 Euro, broschiert 198 Euro. Die Bände sind auch einzeln bestellbar, broschiert kosten sie jeweils 16, 50 Euro.

www.projekte-verlag.de

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