© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

„Als wäre der Krieg gerade beendet“
Gräbersuche im Kaukasus: Noch liegen die Gebeine Zehntausender Soldaten in den unzugänglichen Bergen / Unterwegs mit dem Suchtrupp „Erinnerung“
Alexandre Sladkevich

Ein Krieg kann nicht als beendet betrachtet werden, solange der letzte Soldat nicht begraben ist.“ Die Worte des berühmten russischen Heerführers Alexander Suworow (1730 – 1800) haben ihre Bedeutung nicht verloren. Fast 70 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen, doch noch immer wird nach Gefallenen gesucht. Vor allem Höhenstellungen und Bunkerlinien in der schwer zugänglichen Kaukasusregion um die kleine Schwarzmeerstadt Tuapse bergen die Gebeine von Zehntausenden nicht bestatteten deutschen und sowjetischen Soldaten, aber auch viel Munition.

Beim Kampf um die Ölquellen des Kaukasus stand die Region Tuapse im Sommer und Spätherbst 1942 im Mittelpunkt des Geschehens. Tag und Nacht wurde der Marinestützpunkt von heranrückenden deutschen Truppen angegriffen. Doch es gelang nicht, Tuapse zu erobern. Etwa 23 Kilometer vor der Stadt kam der Vorstoß zum Erliegen. Bei den Kämpfen um Tuapse fielen Tausende deutsche und über 100.000 sowjetische Soldaten – ein Großteil von ihnen wartet bis heute auf eine Bestattung.

Michail Balamatow (35), Leiter des „Museums der Verteidigung von Tuapse“, ist einer, dem die Bestattung der Gefallenen eine Herzensangelegenheit ist. Im Jahr 2010 hat er den militärisch-patriotischen Suchtrupp „Erinnerung an Admiral Isakov“ ins Leben gerufen. Die Gruppe hat ihre Basis in dem damals stark umkämpften Vorwerk Ostrowskaja Schtschel etwa 40 Kilometer nordöstlich von Tuapse.

Hier treffen Jugendliche aus ganz Rußland, die sich für die Arbeit des Suchtrupps begeistern, im Sommerlager auf die Mitglieder der „Erinnerung“. Außer Michail und Andrej Duduktschjan (62) sind dies Aleksej Chandoschko (31), Sergej Sergejew (43), Viktor V. (37), Luftwaffenkapitän Aleksandr Minakow (35) und Gardeluftwaffenkapitän i.R. Aleksandr Pelych (62).

Mehrmals im Jahr nehmen sich die Männer frei, lassen ihre Familien zu Hause zurück und suchen, fast ausschließlich auf eigene Kosten, nach den Gefallenen.

„Der Staat will sich nicht damit beschäftigen, deshalb tun wir das. Abertausende von Unidentifizierten liegen noch im Gebirge“, sagt Pelych. Viktor, der in einer Granatwerfereinheit bei der motorisierten Infanterie im ersten Tschetschenienkrieg diente, träumte schon als Kind davon, dabei zu sein: „Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als einen Soldaten mit einer Erkennungsmarke zu finden. Und ich gebe nie auf, nach ihnen zu suchen.“

Bei jedem Wetter klettern sie auf Berge. Ausgerüstet mit Metalldetektoren untersuchen sie Zentimeter für Zentimeter der blutgetränkten Erde. „Schon als Kind fand ich Patronen, Geschosse, und Maschinenpistolen – nicht nur im Gebirge. Noch in den siebziger Jahren stieß man in den Kellern auf menschliche Knochen“ erklärt Sergej.

Gleichgültig kippen die Männer literweise Regenwasser aus ihren Stiefeln. Ohne jede Regung waschen sie sich in den eiskalten Bergflüssen und streifen sich dann ihre nasse Kleidung über.

Stundenlang sind sie nach einem langen mühsamen Aufstieg auf der Suche, graben und schleppen schwere Geschoßreste für das Archiv des Museums. Michail hat sich ein Ziel gesetzt: „Ich muß sechs Schützenlöcher pro Tag ausgraben.“

Als sie am Ende des Tages keine Knochen gefunden haben, freut sich Michail: „Gott sei Dank, der Soldat wurde doch nicht getroffen. Er blieb am Leben!“ Mit schwieliger Hand wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Doch gelegentlich, so Michail erschöpft, brauche man keine Schaufeln und Metalldetektoren: Die Knochen, Munitionsüberreste, aber auch scharfe Munition lägen auf der Erdoberfläche. Als ob der Krieg erst vor wenigen Monaten zu Ende gegangen wäre.

Michail erfährt in der Gruppe besondere Wertschätzung. Es gibt wohl nichts, was er nicht identifizieren kann. Sei es eine Mine oder nur ein Stück verrostetes Metall. Als erster springt er in die mit kaltem Schlamm gefüllten Gräben. Nach kurzer Zeit steht fest, von wo die Deutschen angriffen, wo die sowjetische Schützengräben waren, womit die Soldaten schossen.

Ein Glücksfall, wenn eine Erkennungsmarke dabeiliegt oder eine Feldflasche mit eingeritztem Namen oder wenigstens ein Knopf. Andernfalls werden die Verwandten, die nach ihren Vätern und Großvätern suchen, nie etwas erfahren. Die wichtigste Frage läßt sich leider nicht immer beantworten: Von wem stammen die gefundenen Knochen?

Nicht identifizierbare Gebeine werden im Wald bestattet. Sowjetische Sodaten werden in den Massengräbern im Rajon Tuapse beigesetzt und die Deutschen finden bei Chutor Sosulin unweit von Apscheronsk auf der Kriegsgräberstätte des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge ihre letzte Ruhe.

Die im September 2008 eingeweihte Gedenkstätte ist der einzige deutsche Sammelfriedhof für die in den Jahren 1942/43 zwischen Rostow am Don und dem Hochgebirge gefallenen 130.000 deutschen Soldaten (Angaben Volksbund).

Blickfang der malerisch gelegenen 3,1 Hektar großen Anlage, auf der bis zu 30.000 Kriegstote bestattet werden können, sind acht mannshohe Stelen, in denen auf Wunsch der Hinterbliebenen Namen und Lebensdaten der noch nicht geborgenen oder vermißten Soldaten verewigt sind.

Verantwortlich für die Gedenkstätte ist Aleksandr Schilin (52). Es sei nicht einfach gewesen, eine solche Einrichtung dort zu gründen, wo die Kriegserinnerungen nach wie vor frisch sind, erklärt der 52jährige und verweist stolz darauf, daß er die Menschen mit guten Argumenten überzeugen konnte.

Schilin ist Abgeordneter der Region Krasnodar und Begründer des örtlichen Suchtrupps „Arsenal“, dessen Hauptaufgabe nicht die Suche nach Gefallenen ist. „Arsenal“ will Kinder und Jugendliche für seine Arbeit sensibilisieren und veranstaltet zu diesem Zweck „militärisch-patriotische“ Sommerlager. Motto des Trupps sind die Worte des Marschalls der Sowjetunion Konstantin Rokossowski: „Man kann nicht lernen, die Lebenden zu lieben, wenn man die Erinnerung an die Gefallenen nicht bewahren kann.“

Schilin und seine Kollegen haben bereits Dutzende Gefallene gefunden und bestattet. Man wisse auch ganz genau, wo noch viele Gebeine ruhten, erklärt Schilin, doch könne man sie nicht exhumieren oder man bekomme keine Genehmigung dafür – denn sie finden sich unter den Häusern, Straßen, Grünanlagen und Fußballplätzen.

„Erinnerung“ und „Arsenal“ sind nicht die einzigen Suchtrupps im Gebiet zwischen Rostow am Don und Tuapse. Immer wieder finden sich Trophäenjäger, die nach Auszeichnungen suchen, wie dem Edelweiß-Abzeichen der im Gebiet operierenden 1. Gebirgs-Division, dem Eisernen Kreuz oder der Erkennungsmarke. Der Handel mit persönlichen Gegenständen floriert. Erkennbar ist manch unachtsamer Plünderer an fehlenden Fingern und Armen.

Dagegen sind die jungen Männer des mit der „Erinnerung“ kooperierenden Suchtrupps „Stern“ voller Idealismus. Jewgenij Nerownow (16), Denis Kobsew (17) und Igor Timofejew (21) lernten sich hier kennen. Pflichtgefühl gegenüber den Gefallenen, eine ordentliche Portion Heimatliebe sowie sportliche Aktivitäten gaben für sie den Ausschlag, der Gruppe beizutreten. „Als ich zum ersten Mal bei der Restaurierung des Denkmals auf dem Semaschko-Hügel dabei war, wurde ich vom Stolz auf mein Volk erfüllt, auf die Menschen, die damals den Kaukasus verteidigt haben und die nicht zuließen, daß der Schwarzmeerhafen erobert wurde“, erzählt Jewgenij und kritisiert: „Viele Jugendliche werden leider vom Fernsehen, dem Internet und Bierkiosken erzogen, und bedauerlicherweise verstehen sie das Wahre nicht.“ Denis fügt hinzu: „Das Gefühl dabei zu sein kann man mit keinem PC-Spiel oder der doofen Trunkenheit vergleichen. Man darf diese Menschen nicht vergessen. Das wäre ein Sakrileg.“

Die Männer von „Erinnerung“ haben kein Problem damit, von ihren nicht sehr üppigen Gehältern oder den bescheidenen Renten etwas zur Seite zu legen, um in den schwer zugänglichen Hügellandschaft ein kleines Ehrenmal aufzustellen oder neue Namensschilder anzufertigen.

Foto. Aleksej Chandoschko, Michail Balamatow und Sergej Sergejew (v.l.n.r.) auf „Höhe 396,8“: Im Gegensatz zu den vielen Trophäenjägern setzt der Suchtrupp bei der Exhumierung von Soldaten allein auf Idealismus

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