© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Aufbegehren gegen den Sultan
Türkei: Gegen Islamisierung und selbstherrlichen Größenwahn / Säkulare Kräfte proben den Aufstand
Günter D. Franke

Angefangen hatte alles, als etwa 50 Personen ein „Sit-in“ auf dem Taksim-Platz von Istanbul abhielten. Sie wollten damit gegen die geplante Neugestaltung und teilweise Überbauung des an den Platz angrenzenden Gezi-Parks protestieren. Im Anschluß ging die Polizei gegen die Demonstranten vor. Der Einsatz der Polizei, aufgenommen von vielen Mobiltelefonen und über das Internet weiterverbreitet, rief Empörung hervor.

Sehr viele junge Leute strömten auf den Platz. Hinzu kamen Zehntausende Anhänger der wichtigsten Oppositionspartei, der CHP (Republikanische Volkspartei). Diese hatte für den 1. Juni eine Großveranstaltung angekündigt. Angesichts der Entwicklung sagte der CHP-Vorsitzende, Kemal Kılıçdaroğlu, diese Veranstaltung ab und forderte seine Anhänger auf, sich den Demonstranten anzuschließen. Bilanz: Zwei Tote, Hunderte Verletzte und tausend Festnahmen.

Immer mehr Türken begehren auf gegen brutale Polizeieinsätze und gegen die „selbstherrliche“ Politik ihres Premiers. Die Protestler werfen Recep T. Erdoğan vor, er nehme auf Kritik keine Rücksicht und wolle den Staat – per „ordre du mufti“ umbauen.

Tagelang tat Erdoğan so, als wäre gar nichts passiert. Vor einem Kongreß türkischer Exporteure redete er die Proteste klein: Was entschieden sei, werde durchgesetzt. Der Taksim dürfe „kein Ort sein, an dem Extremisten machen können, was sie wollen“.

Den Demonstranten geht es um mehr als nur um Bäume. Das Bauprojekt war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Die Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung, speziell im säkularen Lager und der bürgerlichen Mittelschicht, richtet sich gegen den konfrontativen Politikstil Erdoğans und dessen islamisch-konservativer Regierungspartei (AKP). Gegen dessen „Größenwahn“ und gigantomanische Pläne.

Dabei hat ein Großteil der Türken den Premier stets gestützt, hat ihn 2011 ein drittes Mal im Amt bestätigt. Doch Erdoğan hat seinen Erfolg nicht zum Anlaß genommen, die Demokratie zu stärken. Unbehindert von Konkurrenz hat er sich vom Reformer zum Autokraten entwickelt – zum „Sultan von Ankara“, wie er schon genannt wird. Studenten, die gegen Studiengebühren protestierten, Journalisten, die „ihn“ kritisierten, wurden verhaftet.

Der jüngste Bericht der Journalisten-organisation „Reporter ohne Grenzen“ hat der Türkei für 2012 eine negative Diagnose zur Pressefreiheit gestellt. So steht die Türkei auf Platz 154, hinter dem Irak. Zur Zeit sitzen dort 60 Reporter in Haft – so viele wie seit 1983 nicht.

Erdoğans Interesse kreist seit einigen Jahren um Großprojekte – für ihn ein Symbol für den wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg der Türkei zu osmanischer Größe. Gigantische Neubauten sind geplant – darunter die größte Moschee und der größte Flughafen der Welt sowie eine dritte Brücke über den Bosporus, die in nur zwei Jahren fertiggestellt werden soll – exakt zum 29. Mai 2015, dem Jahrestag der Eroberung der Stadt durch die sunnitischen Osmanen im Jahr 1453. Daß die Brücke nach Yavuz-Sultan-Selim, benannt werden soll, hat bei den nicht-sunnitischen Gemeinschaften Entsetzen hervorgerufen. Denn Selim hat sich den Beinamen „der Grausame“ auch dadurch „verdient“, daß er 50.000 Alewiten köpfen ließ.

Vielfach sind es aber nicht die Themen der „großen Politik“, die in der Bevölkerung Ärger auslösen, sondern Vorschriften des Alltags, die auf Erdoğans Weisungen zurückgehen. Oppositionelle werfen ihm immer öfter vor, dem Land einen islamischen Lebensstil aufzwingen zu wollen. Derzeit läuft eine Kampagne gegen Werbung und Verkauf von Alkohol und gegen ein „Küßchen-Küßchen“, wenn sich Istanbuler Paare in der 15-Millionen-Stadt treffen .

Foto: Protest im Strahl der Wasserwerfer: Vereint gegen Erdoğan

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