© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/13 / 31. Mai 2013

Diktatur der Einsicht
Durch Eroberung des Staates zur Lösung der sozialen Frage: Ferdinand Lassalle und die Anfänge der Sozialdemokratie vor 150 Jahren
Jakob Apfelböck

Anfang Dezember 1862 geht in der Bellevuestraße 13 in Berlin ein Brief von drei Leipziger Arbeitervertretern ein. Der Empfänger, Ferdinand Lassalle, darf sich dank einiger philosophischer Veröffentlichungen unterdessen als eine gewisse Größe im deutschen Geistesleben empfinden. Er gilt als mitreißende, aber ebenso sprunghafte Persönlichkeit, und ihn umgibt die Aura des Unbotmäßigen. Schon 1848 fand er sich auf der Seite der radikalen Demokratie. An diesem Engagement hat er auch nach dem Scheitern der Revolution festgehalten.

Lassalle ist hin- und hergerissen zwischen Wissenschaft und Politik. Der Brief aus Leipzig muß ihm daher als eine Versuchung erscheinen. Die ihm nicht näher bekannten Absender haben sein „Arbeiterprogramm“ gelesen und fordern ihn auf, an die Spitze einer Organisation zu treten, für deren Gründung nach ihrer Auffassung die Zeit reif ist.

Soll sich die Arbeiterschaft im Kampf um Demokratie und soziale Gerechtigkeit mit dem Bürgertum gegen die feudalen Eliten verbünden oder hat sie eigene Wege zu gehen? Diese Frage steht seit dem Vormärz im Raum. Die Aufstände von 1848 werden noch von einem Schulterschluß zwischen „bürgerlichen“ und „lohnabhängigen“ Kreisen getragen. Als die Revolution jedoch zusehends ins Leere läuft, löst sich die radikale Linke, die nicht nur die politischen, sondern auch die sozialen Verhältnisse umstürzen will, vom gemäßigten Bürgertum, das wiederum das Gespenst einer „roten Republik“ fürchtet und einen Kompromiß mit der alten Ordnung für das kleinere Übel hält. „Arbeiterbewegung“ bleibt jedoch noch lange Zeit ein vager Begriff, der auf einen Nenner bringt, was in Wahrheit sozial und weltanschaulich äußerst heterogen ist.

Ein Industrieproletariat ist erst im Entstehen. Die Masse der Bevölkerung lebt auf dem Land, je nachdem, ob es sich um Tagelöhner oder Kleinbauern auf eigenen Parzellen handelt, verfolgen sie ganz unterschiedliche Interessen. Den Ton in den Organisationen geben Handwerker an, die mitunter die alte Zunftordnung herbeisehnen und die Mechanisierung der Arbeit in Großbetrieben beklagen. Die Grenzen zu radikalen Demokraten bürgerlicher Provenienz sind fließend, Marx und Engels bloß Auguren ohne größeren Einfluß.

Anfang der 1860er Jahre scheint die Zeit auf eine Formierung der Arbeiterbewegung als eigene, revolutionäre Partei zu drängen. Konservative und liberale Reformer haben begonnen, sich der sozialen Frage anzunehmen. Bürgerliche Demokraten scheinen sich mit einer konstitutionellen Ordnung begnügen zu wollen, die ihnen zwar nur bescheidene politische Teilhabe, aber wirtschaftliche Freiheit verspricht. Fast ausschließlich sind es Veteranen von 1848, die die Initiative ergreifen, unter ihnen Lassalle. Nach kurzem Zögern läßt er sich auf das Angebot aus Leipzig ein und verfaßt ein allgemeinverständliches „Arbeitermanifest“, das in großer Auflage verbreitet wird und an dem sich die Geister scheiden. Mitte April stellt er sich den Leipziger Arbeitern vor, unter den 2.000 Zuhörern befindet sich auch der junge Drechsler August Bebel, der im Kaiserreich lange die Sozialdemokratie prägen wird.

Wenige Wochen später, auf der Gründungsversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) am gleichen Ort, ist die Beteiligung hingegen deprimierend. Die Befürworter einer Reform im Schoße der bürgerlichen Reform tragen den Leipziger Weg nicht mit. Gerade einmal zwölf Delegierte aus elf Städten, die etwa 400 Mitglieder repräsentieren, sind zugegen, einige hundert Gäste aus der Region bilden das Auditorium. Das Gründungsstatut wird gebilligt, Lassalle zum Präsidenten gewählt. Bis zuletzt bangen die Initiatoren, daß er die Wahl nicht annehmen könnte.

Doch Lassalle ist, so bescheiden ihre Anfänge auch sind, zufrieden mit der neuen Organisation. Ihre Struktur ist strikt auf ihn zugeschnitten. Kurz nach Gründung des ADAV übersendet Lassalle Bismarck, mit dem er sich bereits wenige Wochen zuvor heimlich getroffen hat, die Statuten. In seinem Begleitschreiben hebt er hervor, „daß sich der Arbeiterstand instinktmäßig zur Diktatur geneigt fühlt, wenn er erst mit Recht überzeugt sein kann, daß dieselbe in seinem Interesse ausgeübt wird“. Die „Diktatur der Einsicht“ ist auch das Organisationsprinzip des ADAV.Die neue Vereinigung stößt aber nur auf verhaltenen Zuspruch. Manche Kritiker, insbesondere die marxistisch inspirierten, werfen ihr vor, die Rolle des Staates für soziale Veränderungen maßlos zu überschätzen. Auch erscheint es ihnen als suspekt, daß Lassalle mit dem Gedanken einer „sozialen Monarchie“ liebäugelt und der ADAV das allgemeine Wahlrecht als Forderung in den Mittelpunkt stellt. Ihnen steht das französische Beispiel warnend vor Augen, wo Napoleon III. sein autoritäres Regime dank der ländlichen Stimmen, die auch in Deutschland die Mehrheit ausmachen würden, errichten konnte.

Nicht zuletzt stößt die Fixierung auf Preußen auf Argwohn, vor allem bei den Verfechtern einer großdeutschen Republik, unter denen es in der Arbeiterbewegung viele gibt. Lassalle läßt sich davon nicht entmutigen, auf zahllosen Versammlungen schlägt er die Trommel für den ADAV, erlebt dabei Triumphe und Niederlagen. 15.000 Blanko-Mitgliedskarten hat er drucken lassen. Als er am 31. August 1864 an den Folgen eines Duells stirbt, sind davon gerade einmal etwas über 4.000 ausgestellt worden.

Unter seinen glücklosen Nachfolgern geht das Wachstum des ADAV nur langsam voran. Es kommt zu Abspaltungen und Austritten. Im August 1869 versammelt sich die Konkurrenz in Eisenach zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Im Rückblick hat man es sich oft einfach gemacht und die „Eisenacher“ zu Marxisten erklärt. Tatsächlich sind es zahlreiche ehemalige Gefolgsleute Lassalles, die an ihrer Wiege stehen. Auch auf dem Vereinigungsparteitag von ADAV und SDAP im Mai 1875 stellen sie das Gros der Delegierten.

Das Verhältnis der SPD zum Erbe des ADAV blieb dennoch stets ambivalent. Dies ist zum Teil auf Vorbehalte der Marxisten gegenüber der Theorie Lassalles zurückzuführen. Sie erschien ihnen nicht auf Augenhöhe mit dem im englischen Exil formulierten wissenschaftlichen Sozialismus. Vor allem aber war es ein Unbehagen an der Person Lassalles, das viele an traditionellen Tugenden orientierte Sozialdemokraten erfüllte. Seine Lebensführung erschien ihnen als unschicklich und sein Tod als burlesk und unverantwortlich.

Tatsächlich wurde die SPD aber stärker von Lassalle geprägt, als sie es wahrhaben wollte. Ihre latent autoritären Organisationsprinzipien sind auf ihn zurückzuführen. Ihre Geschichte liest sich als Erfüllung des ADAV-Programms: durch das allgemeine Wahlrecht wesentlichen Einfluß im Staat zu erringen, um Verbesserungen für die Arbeiter durchzusetzen. Allerdings wollte Lassalle weiter gehen, als es sich die späteren Sozialdemokraten zutrauten. Sein Ziel war es, den Arbeiterstand mit Hilfe des Staates zu seinem eigenen Unternehmer zu machen und damit die Ausbeutung zu beenden. Hier dürfte die Linke von heute ein größeres Recht beanspruchen können, in seiner Nachfolge zu stehen.

Fotos: SPD-Parteivorsitzender Sigmar Gabriel ehrt anläßlich der Festveranstaltung zum 150. Jubiläum die beiden ältesten SPD-Mitglieder, Leipzig am 23. Mai 2013: Sozial und weltanschaulich äußerst heterogen; Ferdinand Lassalle, Porträt von 1862; rote Fahne der Arbeiterschaft aus Hannover-Ricklingen von 1891: Starke Prägung der Parteilinie

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen