© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/13 / 31. Mai 2013

Skandinavische Mythologie
Familien: Eine Tagung in Frankfurt am Main leuchtet die Folgen der Fremdbetreuung von Kindern aus
Leonhard Lauterstein

Moderne Mythen und Märchen aus dem fernen Skandinavien über Krippenbetreuung und ihre Folgen standen am vergangenen Wochenende auf der Agenda einer Tagung des Familiennetzwerkes und des Instituts für Bindungswissenschaften. Sind Kinder, die mit zwölf Monaten in einer Krippe abgegeben werden, wirklich besser dran als ihre Altersgenossen, die zu Hause aufwachsen? Entwickeln sie sich tatsächlich zu starken Persönlichkeiten, deren Sprach-, kognitive und Sozialkompetenz die der „Hauskinder“ übertrifft?

Politik und Medien wollen uns das weismachen – und stellen uns unentwegt und unhinterfragt die europäischen Nachbarn als zu kopierende Vorbilder vor Augen: allen voran das geradezu als „Kinderparadies“ gepriesene Schweden, natürlich auch den Pisa-Sieger Finnland. Länder, in denen es heißt, es gebe, außer dem berühmten „kleinen“, keinerlei Unterschiede zwischen Mann und Frau. In denen eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf weit vorangeschritten zu sein scheint, weil die Jüngsten schon wenige Monate nach der Geburt staatlichen Stellen zur Betreuung übergeben werden.

Wie es sich mit der seit Jahrzehnten praktizierten Krippenerziehung von Krabbelkindern wirklich verhält, schilderten Fachleute aus Finnland, Norwegen, Schweden und Deutschland vor mehr als 100 Zuhörern in der Goethe-Universität in Frankfurt. Die von den Referenten zitierten Studien, denen zufolge sich bei Kindern in Tagesbetreuung um so mehr aggressive Verhaltensauffälligkeiten und Angststörungen einstellten, je früher und je länger sie in eine „Einrichtung“ gingen, wurde von den Forschungen und Erfahrungen der skandinavischen Gäste bestätigt.

So zog Erja Rusanen, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Helsinki, ein kritisches Resümee der vergangenen 40 Jahre frühkindlicher Gruppenerziehung in Finnland. 97 Prozent der unter Dreijährigen seien in einer Ganztagsfremdbetreuung untergebracht, die Sollgruppenstärke von drei Erziehern für jeweils 21 Kinder werde meist überschritten, so daß sich bis zu 29 Kinder pro Gruppe befinden. Das Kangaroo-Projekt in Helsinki stellte fest, daß der Lärmpegel mit 67 bis 71 Dezibel das Doppelte von dem betrug, was die Weltgesundheitsorganisation WHO für Schulklassen als Höchstgrenze ansetzt.

Der Ingenieur Christian Sörlie Ekström arbeitete bis vor vier Jahren als Unternehmensberater. Dann gab er seinen Beruf auf und recherchierte für sein auf schwedisch erschienenes Buch „Wie sind unsere Kinder wirklich?“, in dem er nach den Ursachen für den verhängnisvollen Entwicklungsprozeß schwedischer Jugendlicher forschte. Der Vater von vier Kindern und Greenpeace-Aktivist las Bücher, führte Interviews, besuchte Fachkonferenzen, um herauszubekommen, welcher Zusammenhang zwischen Krippenbetreuung, Bindungsverhalten und seelischer Gesundheit von Kindern und Jugendlichen besteht. Er entmystifiziert die Vorstellung von einer fortschrittlichen schwedischen Gesellschaft, in der aufgrund der hohen Besteuerung – Schweden hat nach Dänemark die zweithöchste Steuerrate der Welt – auch Mütter, die das gar nicht möchten, zu einer Erwerbstätigkeit genötigt sind. Mit zwölf Monaten sind fast 50 Prozent der Kinder „institutionalisiert“, im Alter von 24 Monaten bereits 90 Prozent. Und das, obwohl laut Meinungsumfragen 70 Prozent der Frauen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten.

Nicht ganz ins Bild passen da auch die hierzulande völlig unbekannten Statistiken zu psychischen Störungen unter schwedischen Jugendlichen. So haben etwa innerhalb der letzten 15 bis 20 Jahre seelische Erkrankungen bei den Mädchen um 1.000 Prozent, Depressionen um 500 Prozent zugenommen. Schwedische und finnische Mädchen weisen die höchste Suizidrate Europas auf. Wo Ekström einen Staatsfeminismus sowie die Gender-Industrie am Werke sah, die die Zerstörung der Familien betreiben, machte der Wirtschaftsjournalist und Filmemacher Günter Ederer in seinem Vortrag „Familie, Liebe und Wirtschaftswachstum – oder: Was haben Familie und Liebe mit Wirtschaftswachstum zu tun?“ zwei ganz unterschiedliche Akteure verantwortlich: einerseits den Sozialismus mit seinem Bild vom Einheitsmenschen, andererseits die Arbeitgeber, für die die „Arbeitsplatzverwertbarkeit der Frau“ im Zentrum steht.

Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU), der auf der Tagung für sein vielfältiges Engagement für die Bedeutung der Familie mit dem Matejcek-Preis 2013 ausgezeichnet wurde, wies in seiner Ansprache auf die Familie als „Bastion der Freiheit“ und als „Widerstandsnest“ gegenüber dem Zugriff von Diktaturen hin.

Die Diagnose ist also gestellt. Nun kommt es auf die Behandlung an. Rainer Böhm, leitender Kinder- und Jugendarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums Bielefeld Bethel, empfahl unter anderem auch eine finanzielle Stärkung der Familien, einen quantitativen Rückbau der U3-Betreuungsplätze sowie deren qualitative Verbesserung.

Durchaus möglich, daß man in Deutschland aus den skandinavischen Erfahrungen die richtigen Schlüsse zieht.

 www.familie-ist-zukunft.de

Foto: Kita-Kind; Preisverleihung an Norbert Blüm: Die Familie als Widerstandsnest gegen Diktaturen

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