© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

Kilometerdicker Eispanzer
Eine wissenschaftshistorische Studie über den Wiener Erfinder und „Welteis-Verkäufer“ Hanns Hörbiger
Christoph Keller

Vor hundert Jahren erschien in einem kleinen Provinzverlag in Kaiserslautern das Buchungetüm „Hörbigers Glacial-Kosmogonie“. Der Untertitel des Wälzers lockte damit, dem Leser „eine neue Entwicklungsgeschichte des Weltalls und des Sonnensystems“ zu bieten. Und zwar „nach den neuesten Ergebnissen sämtlicher exakter Forschungszweige“. Käufer, die diesen vollmundigen Versprechungen vertrauten, erwarteten wohl, es werde ihnen ein zweiter Kopernikus nunmehr den revolutionären Umsturz des modernen Weltbildes demonstrieren.

Am nötigen Selbstbewußtsein, um sich auf einer Höhe mit dem deutschen Astronomen ebenso zu wähnen wie mit Galilei oder Newton, fehlte es dem Verfasser, dem Wiener Erfinder Hanns Hörbiger (1860–1931), jedenfalls nicht. Daß die Fachwissenschaft das in 20jähriger Feierabendfron gemeinsam mit dem Mondforscher Philipp Fauth verfaßte Opus einmütig ignorierte, mochte den Autodidakten, einen renommierten Erfinder und Patentinhaber für Kompressionstechnik, in seinem Sendungsbewußtsein sogar eher bestärken. Und schließlich erreichte seine „Welteislehre“, verzögert wegen des Ersten Weltkrieges, in den 1920ern doch die ersehnte öffentliche Resonanz und wurde, dem Urteil Christina Wesselys zufolge, zur „populärsten kosmischen Weltanschauung des deutschsprachigen Raums“.

Wie Hörbiger, der unter akademisch etablierten Physikern als Scharlatan galt, mit seiner „pseudowissenschaftlichen“ Kosmogonie ein derartiges Echo erzeugen konnte, ist Thema von Wesselys wissenschaftshistorischer Untersuchung über den Wiener „Welteis-Verkäufer“ und „Welträtsellöser“, dessen Name heute allenfalls noch dank des Schauspielerruhms seiner Söhne Paul und Attila sowie als Ursprung der global erfolgreichen Schweizer Hoerbiger Holding (Kompressoren, Getriebe) präsent ist. Trotzdem führt Wesselys „wahre Geschichte“ nicht zurück in Gefilde des Obskurantismus, die abseits glänzender Erfolgsbilanzen der jüngeren Natur- und Technikgeschichte liegen und lieber vergessen werden sollten. Denn gerade an Hörbigers „kosmotechnischem Weltbild“ ist die kulturelle Bedingtheit und Einfärbung auch der objektivierbares Wissen produzierenden, „seriösen“ Naturwissenschaften aufzuzeigen.

Wird doch Hörbigers Publikumserfolg von Wessely als Reaktion auf niederschmetternde Botschaften gedeutet, die die mathematisch streng quantifizierende, abstrakte Universitätsphysik seit Mitte des 19. Jahrhunderts verkündete. Sie verweist dafür primär auf Auswirkungen des von ihr leider nur dürftig erläuterten zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik in der Gestalt, den er 1865 durch den von Rudolf Clausius formulierten „Entropiesatz“ gewann.

Angewendet auf das geschlossene System des Universums, behauptete der Bonner Physiker, das gesamte Weltall nähere sich unaufhaltsam und unumkehrbar einem „Gränzzustande“, der keine Temperaturdifferenzen mehr kennt: dem Stadium des kosmischen „Wärmetods“. Obwohl Clausius’ deprimierende Prognose das sichere Ende des Universums in Äonen weit jenseits menschlicher Vorstellungskraft verlegte, fand sie rasch Verbreitung, weil sie sich haargenau in die „Schablonen des Pessimismus“ fügte, die das bürgerliche Lebensgefühl im Industriezeitalter beherrscht habe. Zur Erwartung des universalen Wärmetodes gesellte sich die Gewißheit, mit der sich ausbreitenden Zivilisation und der Rationalisierung aller Lebensformen auf einen sozialen Kältetod zuzusteuern, lange bevor ohnehin die Vereisung der Erde einsetze, wenn in fünf Milliarden Jahren die Brennstoffreserven der Sonne erschöpft seien.

Vor dem Hintergrund solcher physikalisch beglaubigten Endzeitstimmung verwundere die enorme Faszinationskraft nicht, die für unsere Großväter etwa vom Thema „Eiszeit“, vom Wettrennen zum Südpol oder den „Nordland-“ und „Eismeer“-Panoramen bei Hagenbeck, in Kaufhäusern und Vergnügungsparks ausging. Eine Faszinationskraft, die sich übrigens heute abermals entfaltet, da der „Klimawandel“ neue Untergangsängste schürt, die sich freilich nicht mehr in der Furcht vor „Vereisung“, sondern angesichts schmelzender Polkappen in Warnungen vor der „Enteisung“ des Planeten äußern.

Hörbigers „Welteislehre“ nahm sich im Vergleich mit der Entropie-Dystopie wie ein ersatzreligiöses Vademekum aus. Der „Meister aus Mauer“ gewann dem Kältediskurs positive Seiten ab, denn er offerierte, wie ein Dutzend weiterer Verfasser alternativer Kosmogonien, die um 1900 zusammen mit literarischen Privatmythologien wie Theodor Däublers Epos „Das Nordlicht“ (1910) – einer „arktischen Erlösungslehre“ in 30.000 Versen – auf den Buchmarkt schwemmten, kein definitives Ende von Erde, Milchstraße und Universum.

Vielmehr extrahierten Hörbigers Apostel in „Aufklärungsschriften“, in ihrer bescheiden Der Schlüssel zum Weltgeschehen getauften Hauspostille, ja sogar in Science-fiction-Romanen aus dem hemmungslos spekulierenden Text ihres Meisters eine Heilslehre, die auf ewige Wiederkehr statt auf Kälte- und Wärmetod setzte.

Hauptpfeiler dieser „Bildungsgeschichte des Sonnensystems“ ist der groteske Glaube an einen Sterngiganten von millionenfacher Sonnenmasse. In den schlügen kleinere, vereiste Gestirne ein, die nach Jahrtausenden von der „Mutterriesin“ wieder hinausgeschleudert würden und die sich zu einem Glutkreisel ordnen, dessen Mittelpunkt unsere Sonne ist, umgeben von der „Milch-Eisstraße“ und Planeten wie dem Mond, den ein kilometerdicker Eispanzer umgebe. Und da sich die Sonne in Jahrmilliarden wiederum alle Planeten einverleibe, werde sie selbst zur „Sternenmutter“, die ein neues Sonnensystem gebäre.

Im Gegensatz zu den von Hörbiger verachteten „Reinmathematikern und Grüntischphysikern“, die mit Max Plancks Quanten- und Albert Einsteins Relativitätstheorie nur ein weiteres Mal ihre Unfähigkeit bewiesen hätten, ein geschlossenes, Orientierung gebendes Weltbild zu vermitteln, verfügte er, der „intuitive Bilddenker“, wie es schien, über eine „Gesamtschau“, um abgehobene naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Synthese zu bringen, die selbstverständlich auch Rätsel der Astrophysik, Erdgeschichte, Biologie und Klimatologie löste, offene Fragen zu Saturnringen und Sonnenflecken beantwortete und das Geheimnis der Sintflut enthüllte.

Ihren Zenit hatte die Welteislehre 1931 mit dem Tod ihres charismatischen Schöpfers überschritten. Daß sie in Heinrich Himmler einen Gönner und im SS-„Ahnenerbe“ einen Rückhalt fand, verhinderte nicht, wie Brigitte Nagel bereits 1991 dokumentierte, ihr Versinken in die Bedeutungslosigkeit in einer Zeit, in der „Grüntischphysiker“ wie Werner Heisenberg die wissenschaftlichen Maßstäbe setzten.

Informationen zur Welteislehre des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung: fwf.ac.at/de

Christina Wessely: Welteis – Eine wahre Geschichte. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013, gebunden, 319 Seiten, 29,90 Euro

Foto: Welteis-Illustration: Da sich die Sonne in Jahrmilliarden alle Planeten einverleibe, werde sie zur „Sternenmutter“ für ein neues Sonnensystem

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen