© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Man liest mit Verblüffung, daß Günter Grass bei seinen Wahlkampfauftritten zugunsten von Willy Brandt Eintrittsgeld verlangen konnte. Derlei war bisher nur von einem anderen deutschen Politiker bekannt.

Die landläufige Erklärung für exzessive Gewaltanwendung Jugendlicher blendet regelmäßig einen Aspekt aus: fehlende Gewalterfahrung. So gewinnt selbst die Behauptung, nicht gewußt zu haben, daß ein Tritt gegen den Kopf lebensgefährlich sein kann, eine gewisse Plausibilität. Wem von Kindesbeinen an Gewalt – und das heißt auch Schmerz – erspart wurde, der kann irgendwann zu der Auffassung kommen, daß das eine wie das andere nur virtuell ist. Es bleibt Ausdruck einer naiven Anthropologie, anzunehmen, daß nur die Erfahrung von Gewalt gewalttätig macht, auch das Gegenteil kann der Fall sein.

Die Gereiztheit, mit der man in Deutschland auf Giorgio Agambens Gedankenspiele zu einem „lateinischen Imperium“ reagiert, ist so unbegründet wie die Irritation über die Wiederkehr des „häßlichen Deutschen“ in den romanischen Ländern. Tatsächlich kann man das eine wie das andere auf dieselbe Ursache zurückführen: Wir haben uns verändert, die anderen nicht.

Gewalt spielte in der Erziehung von Jungen traditionell eine wichtige Rolle. Das hatte nicht nur mit Züchtigung zu tun, sondern auch mit sozialer Siebung. Angefangen bei den brutalen Initiationen der Naturvölker bis zum Brauch der Spartiaten, ihre Jungen vor dem Tempel der Artemis blutig zu schlagen, bevor sie zu Männern erklärt wurden. Im Rahmen des Zivilisierungsprozesses ist diese Art der Gewaltanwendung immer weiter zurückgedrängt worden, hat auch viel von ihrer ursprünglichen Notwendigkeit eingebüßt. Es bleibt aber die Frage, ob das nur wohltätige Folgen hatte, ob nicht eine auf Empathie und Überredung abstellende Pädagogik gerade für das männliche Geschlecht unbrauchbar ist.

Bildungsbericht in loser Folge XXXIX: Während der Economist Jugendarbeitslosigkeit als das wirtschaftliche Problem des 21. Jahrhunderts bezeichnet, träumt man in Deutschland von Vollbeschäftigung, sobald die Babyboomer in den Ruhestand treten und jeder, der will, auch einen Ausbildungsplatz erhält. Dabei ist die Perspektive des britischen Blattes sicher realistischer, denn die Hauptschwierigkeit, die sich jetzt schon abzeichnet, liegt in der Unqualifiziertheit des Nachwuchses. Das heißt, selbst wenn die Zahl der frei werdenden Stellen und der Bewerber ausgeglichen werden kann, bleibt die Menge derer, die nicht die richtigen Voraussetzungen mitbringt, angefangen bei mangelhafter Beherrschung elementarer Kulturtechniken, endend beim Studienabschluß in einer Pseudodisziplin.

Keiner Gemeinde mehr zuzumuten: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er.“ (Hebräer 12.6)

„Auch die deutsche Idee der ‘Gemeinschaft’ gefällt mir. In den Vereinigten Staaten haben wir bestenfalls eine Gesellschaft, und mit der geht es inzwischen auch bergab. Ein paar der Dinge, die die Nazis den Menschen anzubieten vorgaben, waren ja nicht an und für sich schlecht. Die Kraft-durch-Freude-Bewegung, in der alle Jugendlichen gemeinsam arbeiten mußten, war eine großartige Idee. Wenn ich heute in muslimische Länder reise und sehe, wie sich die Männer dort untereinander als Brüder begrüßen, spüre ich den Reiz dieses Gedankens. Wer könnte es den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts vorwerfen, daß sie sich nach Gemeinschaft sehnten?“ (Der amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann, Verfasser des Romans „Europe Central“, in einem Interview)

Die vor einigen Jahren sehr intensiv geführte Debatte über das Buch von René Girard „Das Heilige und die Gewalt“ ist bemerkenswert folgenlos geblieben. Girards These vom Opfer als dem zentralen, die Gemeinschaft konstituierenden Vorgang, bei dem die Gewalt gegen den „Sündenbock“ der Bannung der destruktiven, den sozialen Zusammenhalt gefährdenden Gewalt dient, wurde offenbar als Therapievorschlag mißverstanden.

Es gibt eine erstaunliche Diskrepanz zwischen der Ächtung von Gewalt und ihrer exzessiven Darstellung. Vom Ballerspiel bis zum Splatterfilm, von der Actionfigur bis zum Sadomasochismus im Hausfrauenroman geht es um kleine und große Quälereien, äußerstenfalls um Verstümmelungen und fürchterliche Todesarten, die auf jede erdenkliche und mittels Technik höchst realistische Weise ausgemalt und präsentiert werden. Das hat natürlich mit Gewaltentwöhnung zu tun, der man als Spiegelbild die scharfe Zensur von Gewaltdarstellungen oder deren bis an die Grenze des Komischen reichende Stilisierung in einer Zeit gegenüberstellen kann, in der tatsächliche Gewalt an der Tagesordnung war.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am7. Juni in der JF-Ausgabe 24/13.

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