© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

Dynastien in der Dämmerung
Vor hundert Jahren heiratete die Kaisertochter Victoria Luise den Welfen Ernst August / Europa feierte seine letzte Friedensgala
Christian Vollradt

Die ganze Welt schaute auf Berlin an diesem 24. Mai 1913, wo sich vor über einer Million Schaulustiger fast der gesamte europäische Hochadel am kaiserlichen Hofe versammelt hatte, um am Abend mit einem Bankett die vier Tage währenden Hochzeitsfeierlichkeiten der einzigen Tochter Kaiser Wilhelms II., der Prinzessin Victoria Luise abzuschließen. Doch was hier in aller Pracht und einem wie aus der Zeit gefallenen Zeremoniell begangen wurde, wäre ohne ein trauriges Ereignis gut ein Jahr zuvor kaum möglich gewesen.

Denn am Anfang stand ein schwerer, tödlicher Autounfall: Der junge Welfenprinz Georg Wilhelm befand sich auf der Fahrt nach Kopenhagen zur Beisetzung des dänischen Königs, als er am 20. Mai 1912 nahe dem brandenburgischen Friesack mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum raste. Der Prinz, der selbst am Steuer gesessen hatte, war sofort tot. Als Kaiser Wilhelm II. von dem tödlichen Unfall erfuhr, ließ er eine Abordnung von Zieten-Husaren aus dem nahen Rathenow als Ehrenwache neben dem aufgebahrten Prinzen aufziehen. Eine Geste, die keineswegs selbstverständlich war. Denn zwischen den beiden Familien, den Hohenzollern auf dem Thron in Berlin einerseits und den Welfen im österreichischen Exil andererseits, herrschte formell Kriegszustand.

Preußen hatte 1866 nach dem Sieg über Österreich das (ursprünglich um Neutralität bemühte) Königreich Hannover zur Kapitulation gezwungen und, kurze Zeit nachdem König Georg V. ins Exil nach Oberösterreich gegangen war, annektiert. Hannover, einst in Personalunion mit Großbritannien regiert, eine preußische Provinz – was für eine Schmach.

Dieser Konflikt wurde noch einmal virulent, als 1884 im Herzogtum Braunschweig, wo die (traditionell mit Preußen verbündete) ältere Linie der Welfen regierte, die Thronfolge anstand. Der unverheiratete Herzog Wilhelm war zwar nicht kinderlos, jedoch ohne legitime Erben gestorben. Laut Verfassung wäre nun die jüngere Linie an der Reihe gewesen, also der Sohn des letzten Hannoverschen Königs, der Herzog Ernst-August von Cumberland.

Doch da war Bismarck vor, der bereits mit einer militärischen Besetzung Braunschweigs drohte. Den Bundesrat ließ der Reichskanzler beschließen: Niemand darf auf einen Thron, der die bestehende Ordnung im Reich in Frage stellt. Damit schied Ernst August aus, da der seine Ansprüche auf Hannover aufrechterhielt, Braunschweig bekam schließlich nacheinander zwei Regenten.

Ungeachtet seines Grolls gegenüber den Preußen entsandte nun am 31. Mai 1912 der Herzog von Cumberland seinen jüngsten Sohn, Prinz Ernst August, ins Stadtschloß nach Berlin, um den Dank für die Anteilnahme am Schicksal des ältesten zu übermitteln. Es war der erste Besuch eines Welfen am preußischen Hofe seit 45 Jahren. Die Gesprächsatmosphäre soll steif gewesen sein und entspannte sich offenbar erst, als dem jungen Kavalleristen einige prächtige Vollblüter vorgeführt wurden – unter anderem von der kaiserlichen Prinzessin Victoria Luise. Daß die 19jährige Kaisertochter sich dabei in den gutaussehenden 24jährigen Prinzen verguckt hatte, war der engeren Umgebung bei Hofe nicht entgangen. Doch die politischen Hindernisse, die solch einer Liaison entgegenstanden, waren allen Beteiligten bewußt. Als Prinz Ernst August erkennen ließ, daß er die Gefühle Victoria Luises erwiderte, wurden sehr diskret die Verhandlungen aufgenommen.

Der Kompromiß schließlich, mit dem der „Gordische Knoten“ nach langem juristischem und diplomatischem Tauziehen gelöst werden konnte, lautete wie folgt: Der Herzog von Cumberland gestattete seinem Sohn Ernst August, die Nachfolge in Braunschweig anzutreten, ohne daß er damit förmlich auf den Thron von Hannover verzichtete. Ernst August junior wiederum trat in die preußische Armee ein und leistete einen Fahneneid auf den preußischen König. Darüber hinaus verpflichtete er sich zum „reichsverfassungsmäßig gewährleisteten Frieden unter den Bundesgliedern“, das heißt, jegliche Aktion für den hannoverschen Thron zu unterlassen.

Die Legitimitätskrise in Braunschweig war damit beendet, die in Hannover ließ man weiterbestehen, doch die Eiszeit zwischen Welfen und Preußen war beendet. Die Satirezeitschrift Simplicissimus brachte eine Karikatur der beiden händchenhaltenden Verlobten, während im Hintergrund die Muse der Geschichte die Jahreszahl 1866 wegwischte.

Zum großen Versöhnungsfest sollte diese Traumhochzeit im Mai 1913 nicht nur in dynastischer Hinsicht werden. Rückblickend erscheint das Fest als Europas letzte „Friedensgala“. Wilhelm II. fuhr im Galawagen mit den Mächtigen Europas durch die von Menschenmassen gesäumten Straßen Berlins. Zuerst war das englische Königspaar eingetroffen, wenig später der Sonderzug des russischen Zaren. Jubelnd begrüßte man die Verwandten des Kaisers. Nikolaus und George nahmen die Paraden der preußischen Regimenter ab, deren Chefs sie waren; und die sich nur gut ein Jahr später erbitterte Schlachten mit den russischen und britischen Truppen liefern sollten ...

Noch dominierte aber die Hoffnung, daß es dazu niemals kommen werde. Beim zeremoniellen Höhepunkt der Hochzeitsgala, dem Fackeltanz, schritt die Braut an der Hand des Zaren und des englischen Königs: „Seht den Friedensengel, wie er die Herrscher der beiden größten Staaten geleitet“, so erinnerte sich später eine Zeugin der Szene.

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