© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

Aus der Versenkung gehoben
Nietzsches neuer Mozart: „Der Löwe von Venedig“ von Peter Gast im Winterstein-Theater Annaberg
Sebastian Hennig

Der Münchner Kosmiker Alfred Schuler soll vorgehabt haben, dem verrückten Friedrich Nietzsche den Geist zu entrücken mittels korybantischer Tänze, durchgeführt von Jünglingen mit Kupferschilden. Zu dieser Heilungskatastrophe sollte es nicht kommen. Isabella von Ungern-Sternberg schildert ein weit friedlicheres Bild der Sterbebegleitung. Während der Philosoph in einem weißen Gewand gekleidet auf einem Diwan lagert, musiziert sein Freund: „Unter den Händen von Meister Peter Gast entquollen dem Flügel herrliche Klänge, mächtige Tonwellen, die den Kranken wie mit Zaubergewalt ergriffen ...“ Der Einsame gibt seine Zustimmung kund in „nicht enden wollendem Beifallsklatschen“.

Auch das Theaterpublikum in der Erzgebirgsstadt Annaberg gibt eifrig Szenenapplaus nach jeder Nummer, wie es in der großen Opernwelt am Teatro San Carlo in Neapel oder der Mailänder Scala üblich ist. Der gründerzeitliche Theaterbau findet sich in einer Bergstraße zwischen schlichte Kleinstadthäuser gedrängt. Peter Gast erhoffte sich eine Aufführung seiner Komischen Oper „Der Löwe von Venedig“ am Theater seiner Geburts- und Heimatstadt bis zuletzt vergeblich. Das letzte Lebensjahrzehnt bis 1918 lebte er sein sonderliches Einzelgänger-Dasein in dem Haus am Pöhlberghang. Erst die Wertschätzung Nietzsches vermochte 1933 an der Oper Chemnitz die sächsische Erstaufführung zu bewirken. Und seine Oper ist schon recht komisch, und stellenweise mehr eine gesungene Komödie, denn eine Opera buffa. Möglicherweise aber hat sie nicht weniger Lebenskraft auf der Bühne als manches musikdramatische Werk von Paul Hindemith, das durch einen entgegengesetzten kulturpolitischen Willen heute vor dem Vergessen geschützt wird.

1888 preist Nietzsche in einem Brief an Hans von Bülow Gasts komische Oper „Der Löwe von Venedig“: „Diese Oper ist ein Vogel der seltensten Art. Man macht jetzt so etwas nicht mehr. Alle Eigenschaften im Vordergrunde, die heute, skandalös, aber tatsächlich, der Musik abhanden kommen. Schönheit, Süden, Heiterkeit, die vollkommen gute, selbst mutwillige Laune des allerbesten Geschmacks – die Fähigkeit, aus dem Ganzen zu gestalten, fertig zu werden und nicht zu fragmentisieren (vorsichtiger Euphemismus für ‘wagnerisieren’).“

Zwei Dinge klingen in diesen Sätzen an: zum einen wie Nietzsche hier Gast zum Vollstrecker seiner Kunstvorstellungen kürt, andererseits die Eigentümlichkeit eines Prä-Neoklassizismus in Reaktion auf den europaweiten Wagnerianismus in der Musik. Was erst im Europa seit den dreißiger Jahren als Überdruß-reaktion auf das Dauer-Experiment der Avantgarde um sich greift, eine formale Orientierung an der Musik des 18. Jahrhunderts, ist hier vorweggenommen. In der künstlerischen Haltung ist „Der Löwe von Venedig“ ein Vorläufer von Igor Strawinskys „The Rake’s Progress“, und den Werken Ermanno Wolf-Ferraris oder Ottorino Respighis.

Zum 120. Jubiläum des Theaters der Stadt hat man sich in Annaberg auf den Sohn der Stadt besonnen und „Der Löwe von Venedig“ publikumsfreundlich inszeniert. Der Komponist wählte sich Domenico Cimarosas 1792 in Wien uraufgeführte Oper „Il matrimonio segreto“, übersetzt sie neu und komponiert „Die heimliche Ehe“, die er 1883 zum Karneval in Venedig aufführen wollte. Doch das Werk wurde erst im Jahr darauf fertig. Nietzsche empfahl aus werbetaktischen Gründen einen neuen Titel. Der Uraufführung 1891 in Danzig konnte Nietzsche nicht mehr beiwohnen. Danach gab es bis 1933 keine weitere Aufführung. Nur das lebendige Vorspiel wurde gelegentlich gegeben.

In Annaberg erklingt sie ordentlich bei geschlossenem Vorhang. Erst dann erheben sich Paolino (Frank Unger) und Carolina (Madelaine Vogt) aus einem Schlafsacklager in der Lagune von Venedig. Die Silhouette der berühmten Türme und Kuppeln beherrscht den Hintergrund. Alle Sänger schlagen sich wacker. Der schwungvollen Personenregie und der spritzig musizierenden Erzgebirgischen Philharmonie Aue unter der Leitung ihres Generalmusikdirektors Naoshi Takahashi gelingt es, den Fortgang der Handlung über alle formalen Hänger hinweg zu reißen.

Leider erreicht dann Jason-Nandor Tomory als Graf Robinson in dem großen Duett mit Elisetta (Bettina Gothkopf) das Ende der Fahnenstange. Dafür kommt es in der Szene mit dem Beschluß der Einklosterung der hübschen Carolina zum einzigen Male in diesem Werk auch zu echter großer Musikdramatik. Das Publikum verläßt sichtlich angeregt den Saal.

Die bemühte Tristesse so mancher Inszenierung scheint die große Stunde dieser Musik zu sein, denn fast möchte man Nietzsche nach dieser unbeschwerten Unterhaltung zustimmen, wenn er sagt: „Hier ist ein neuer Mozart – ich habe keine andere Empfindung mehr: Schönheit, Herzlichkeit, Heiterkeit, Fülle, Erfindungs-Überfluß und die Leichtigkeit der kontrapunktischen Meisterschaft ...“

Nietzsche verordnete dem Freund Heinrich Köselitz den Künstlernamen Peter Gast, da er dessen Nachnamen als slawische Bezeichnung für den Ziegenhirten für einen Komponisten unstatthaft fand. Heute gibt es in Annaberg sowohl einen Köselitz-Platz als auch eine Peter-Gast-Straße und nun auch sein Hauptwerk im Spielplan.

Die nächste und letzte Vorstellung in dieser Spielzeit von „Der Löwe von Venedig“ im Winterstein-Theater-Annaberg, Buchholzer Straße 67, findet am 19. Mai um 19 Uhr statt. Kartentelefon: 0 37 33 / 14 07-131

www.winterstein-theater.de

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