© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

Das vollkommene Drama
Zweihundert Jahre Richard Wagner: Der Komponist steht im Mittelpunkt vieler Traditionslinien / Das Gesamtkunstwerk als Identität der Moderne / Entsteht eine neue Ganzheit in der multimedialen Gegenwart?
Felix Dirsch

Die Zuschreibung von Genialität auf Wagners Person, ja mehr noch auf sein Werk ist zumal in diesem Jahr anläßlich seines 200. Geburtstages so häufig angewendet worden, daß es fast schon peinlich ist, sie auch an dieser Stelle nochmals zu traktieren. Einer der Gründe für die Exzellenz seines Werkes liegt nicht zuletzt in der zeitgemäßen Erneuerung der alten Idee vom Gesamtkunstwerk, das er zu einer grundlegenden ästhetischen Kategorie des 19. Jahrhunderts formte.

Die imponierende Reihe der Vorläufer braucht kaum erwähnt zu werden. Zu den frühen Varianten des Gesamtkunstwerks zählt die gotische Kathedrale. Hans Sedlmayrs Darstellung „Die Entstehung der Kathedrale“ zeigt anhand zahlreicher Beispiele, wie die verschiedenen Künste in dieser zusammenwirken und so eine beinahe einzigartige integrative Wirkung erreicht wird. Ähnliche Kraft entfaltete das Gesamtkunstwerk im Barock. In dieser Epoche versuchte man an zahlreichen Orten, durch eine Synthese künstlerischer Ausdrucksmittel das „Metaphysische mit physischen Mitteln“ (Richard Zürcher) zu realisieren. Überaus beeindruckende Exempel solchen Schaffens sind die Barockkirche von Weltenburg und die Wieskirche.

Im 18. Jahrhundert machte sich mehr und mehr ein gegenläufiger Trend bemerkbar: die Partikularisierung unterschiedlicher Sachbereiche von Leben und Wissenschaft. Max Weber konstatierte im frühen 20. Jahrhundert eine Autonomisierung von Kunst, Recht, und Politik. Die Aufklärung bewirkte demnach die „Entzauberung“ sämtlicher Wertsphären des menschlichen Daseins.

Daß sich gegen solche Tendenzen Widerstände regten, erstaunt nicht. Die Romantik ist vornehmlich als Strömung zu begreifen, die auf der Suche nach der verlorenen Ganzheitlichkeit ist. Der Kern der romantischen „Fundamentalkritik der Moderne“ (Hans-Christof Kraus) besteht vor allem im Programm der Wiederverzauberung der Welt. Dazu ist der christliche Glaube als die die diversen Bereiche des Lebens überwölbende, orientierungsstiftende Kraft unabdingbar. Die Absonderung der Künste voneinander empfanden die Romantiker als Ärgernis. Als besonderes Gegengift des Spätromantikers Wagner gegen den Rationalismus der Moderne wirkte das „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal, dessen mysteriumshafte Aura Züge einer „Zauber-oper“ (Eduard Hanslick) offenbart.

Klagen über die verschwundene Harmonie des Menschen mit dem Kosmos, der Natur, aber auch der Gesellschaft durchziehen die Neuzeit, insbesondere das 19. Jahrhundert. Verschiedene Denker der politischen Linken, etwa Marx und Bakunin – letzterer übte wesentliche Einflüsse auf Wagner aus – waren offen für derartige Ansichten. Man erinnere sich lediglich an Marx’ berühmtes Diktum von der Entfremdung und an seine Forderung, der Mensch der Zukunftsgesellschaft müsse täglich Jäger, Fischer, Hirt und Kritiker sein können.

Ein neuer zeitgemäßer Entwurf des Gesamtkunstwerks, der freilich nicht ganz so integrativ ausgerichtet sein konnte wie die gotische Kathedrale, lag im frühen 19. Jahrhundert förmlich in der Luft. Ein Indiz dafür bietet die Begriffsgeschichte. „Gesamtkunstwerk“ wurde 1827 von dem Schriftsteller Eusebius Trahndorff in den allgemeinen Sprachschatz eingeführt. Gut zwei Jahrzehnte später erschien Wagners grundlegende Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft“. Sie stellt weit ausgreifende, visionäre Überlegungen über das Verhältnis von Mensch, Natur, Kunst und Gesellschaft in den Mittelpunkt. Der Traktat mündet in das Postulat, Politisch-Gesellschaftliches und Künstlerisches sollten verschmelzen. Einer der Schlüsselsätze der Abhandlung lautet: Jede „einzelne Kunstart vermag der gemeinsamen Öffentlichkeit zum vollen Verständnisse nur durch gemeinsame Mitteilung mit den übrigen Kunstarten im Drama sich zu erschließen“.

Dabei geht es Wagner nicht um simple Addition, sondern um eine organische, „vollständige Verschmelzung und Synthetisierung im Sinne einer alle menschlichen Wahrnehmungsorgane gleichermaßen affizierenden Bühnenkunst“ (Roger Fornoff). Eine Hauptrolle spielen in diesem Kontext die zentralen dramatischen Elemente: dichterischer Text, Musik und szenische Darstellung. Wesentliches Vorbild ist die antike Tragödie. Kunst als Teil des öffentlichen Lebens war hier nach Wagners Auffassung mustergültig verwirklicht.

Diese aus der engen Verbindung der Künste sich ergebende Vereinigung zum krönenden Musikdrama hatte für Wagner keinen Selbstzweckcharakter. Er verlor das Gesellschaftliche nie aus den Augen. Seine politisch-revolutionären Erfahrungen blieben prägend, wenngleich in seinen späteren Lebensjahren eher konservativ-nationale Gedankengänge die frühere Vorstellungswelt partiell verdrängten.

Daß die Rezeption nach seinem Tod eher von einer rechtskonservativ-kleinbürgerlichen Klientel getragen wurde, kann daher kaum verwundern. Das Zusammenwirken der Künste war für den Meister das ästhetische Pendant zu einem Modell des Sozialen, das Liebe und Solidarität als zentral für menschlich-ganzheitliches Zusammenleben herausstellen sollte. Das Ziel bestand in der Errichtung einer staats- und herrschaftslosen Gesellschaft, komplementär zu einem geeinten Volk. Mit Bezugnahme auf dieses konstatierte er: „Im Kunstwerk werden wir eins sein.“

Im 20. Jahrhundert erfuhr die Vorstellung vom Gesamtkunstwerk eine deutliche Entgrenzung. Es tauchte in vielen Kontexten auf. Sogar im Stalinismus haben manche die Metamorphose eines Gesamtkunstwerkes sehen wollen.

Freilich gab es weniger umstrittene, faszinierende neue Ausprägungen, nicht zuletzt infolge der Erfindung des Mediums Film. Aus dem facettenreichen expressionistischen Gesamtkunstwerk ragt der russische Maler Wassily Kandinsky heraus. Rudolf Steiner betonte, daß „anthroposophische Geisteswissenschaft aus dem ganzen, aus dem vollen Menschentum heraus schafft“. Einen erneuten Höhepunkt Jahrzehnte später stellt das Werk Joseph Beuys’ dar.

In der unmittelbaren Gegenwart wird darüber diskutiert, ob die multimedialen Techniken eine neue Ausprägung der Totalitätskunst bedeuten. Haben Wagners Werke seine Anhänger für eine begrenzte Dauer in einen rauschhaften Zustand versetzt, so bringen diese neuen Mittel die Möglichkeit, permanente Illusionierung zu erzeugen. Der 1999 verstorbene Kunsthistoriker und Publizist Heinrich Klotz bezeichnete die neuen Medien als Gelegenheit, „Illusion in Simulation zu verwandeln“. Eine solche neue Welt produziere einen „Weltersatz“ in Permanenz. Kulturwissenschaftler haben diese These aufgegriffen und sie dahingehend zugespitzt, als sie eine Endlosschleife der Virtualität konstatieren. Die Virtualität werde so zur Realität und umgekehrt.

Trotz eines ungeahnten Potentials durch die moderne Technik behält Wagners Entwurf des Gesamtkunstwerks seine herausragende Bedeutung. Er betrachtet Kunst nicht als Selbstzweck – so sehr er auch ihren autonomen Charakter anerkennt –, sondern betont die Rückbindung an das Ziel eines geeinten Volkes sowie der Überwindung seiner Fragmentierung – und das gilt nicht nur für das zersplitterte Deutschland vor der Reichseinigung 1871. Hier lassen sich mühelos Ansatzpunkte im Hinblick auf die heutige multikulturelle Situation unseres Landes finden.

Foto: Richard Wagner (1813–1883), historische Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert: Er betrachtet Kunst nicht als Selbstzweck – so sehr er auch ihren autonomen Charakter anerkennt –, sondern betont die Rückbindung an das Ziel eines geeinten Volkes sowie der Überwindung seiner Fragmentierung

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