© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

Pankraz,
Paracelsus und die Apotheke der Welt

Interessante, verwirrende Nachrichten aus Deutschland, der „Apotheke der Welt“ (Ortega y Gasset). Laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) befinde sich die hiesige „Gesundheitswirtschaft“, die sich aus der Pharmabranche und aus der Branche für Medizintechnik zusammensetze, in blendender Form. Ihre Zuwächse überträfen die jeder anderen Branche, es werde bis zum Jahresende mindestens 55.000 neue Arbeitsplätze geben.

Gleichzeitig schlägt der „Gemeinsame Bundesausschuß von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken“ Alarm. Nur ein Bruchteil der neuen Medikamente und Heiltechniken sei besser als die bisherigen, heißt es dort. Nach der jüngsten, mit größter Sorgfalt durchgeführten Überprüfung von 37 neuen Angeboten habe man nur bei sieben von ihnen einen „beträchtlichen Zusatznutzen“ feststellen können, in weiteren vierzehn immerhin einen „geringen“. Alle 37 Angebote seien aber beträchtlich teurer als ihre Vorgänger.

Die linke Presse zeigt sich durch die Erfolgsnachrichten der DIHK richtig animiert und reitet nun wieder einmal auf ihrem Lieblingsthema herum: der angeblichen Unmenschlichkeit, mit der die deutsche Pharmaindustrie „Migranten“ und „ausländische Kunden“ als Versuchskaninchen für Langzeittests mißbrauche. Im Spiegel fand sich – gleichsam als Krönung des Ganzen – ein horrender Text, in dem behauptet wurde, daß Hoechst, Boehringer Ingelheim & Co. während der Kommunistenzeit auch die arme DDR-Bevölkerung mit Lieferungen von Testsendungen an DDR-Kliniken regelrecht vergiftet hätten.

Man berief sich dabei ausdrücklich auf „bislang unbekannte Akten der Stasi“ – und verschwieg wohlweislich, daß es natürlich einzig die Stasi und ihre Auftraggeber im Zentralkomitee gewesen waren, die für die betreffenden Deals Verantwortung trugen. Ihre Devisengeilheit und der notorische Mangel an guten Medikamenten in ihrem Machtbereich ließen irgendwelche moralischen Bedenken gar nicht erst aufkommen; wer dennoch welche äußerte oder gar darauf insistierte, verschwand hinter Gittern.

Krassester Medikamentenmangel und Sehnsucht nach Westmedikamenten waren die vollen vierzig Jahre hindurch eines der Hauptkennzeichen der DDR. Unzählige Tragödien (bei Nichterhalt), aber auch viele Freudenfeiern und (zumindest von außen betrachtet) hochkomische Situationen sind mit ihm verbunden. Und in den letzten Monaten der DDR, als die Zensur sich spürbar zurückzog, kam bei der Defa als erstes großes Symbol der neuen Freiheit der Film „Einer trage des anderen Last“ von Lothar Warneke heraus – und es war ein westöstlicher Medikamentenfilm!

Er handelte von zwei jungen Patienten, die in einer DDR-Klinik todkrank auf einem Zimmer liegen: von einem kleinen Volkspolizisten und überzeugten Stalinisten und von einem kleinen evangelischen Vikar, der tapfer für seinen Gott eintritt. Beiden geht es sehr schlecht, doch der Vikar hat „Westverwandtschaft“, und die schickt ihm eines Tages ein dringend benötigtes Medikament. Aber der Vikar gibt es an den Volkspolizisten weiter, „weil es dem ja noch schlechter geht“, und der Volkspolizist wird nach Einnahme tatsächlich gesund und salutiert zum Dank knapp vor der Jesus-Ikone überm Bett seines Zimmergenossen.

„Jeder trage des anderen Last“ wurde damals im Westen sehr bejubelt und erhielt auf der West-Berliner Berlinale einen Silbernen Bären. Der Vikar wird in dem Film übrigens auch wieder gesund, statt seinerseits zu sterben, ganz ohne Westmedikament. Sein Opfer war im Grunde gar keines. Der Film war nicht wirklich gut, lediglich gut gemeint. Er wagte es nicht, die Lage bis zur Grenzsituation anzuschärfen und dadurch Erschütterung und Nachdenklichkeit zu erzeugen.

Zurück zu den Mitteilungen des Gemeinsamen Bundesausschusses von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken im Deutschen Ärzteblatt: „Für die Zulassung eines Medikaments“, konstatieren sie zusammenfassend, „ist es bislang gesetzlich nicht nötig, es direkt mit einem handelsüblichen Arzneimittel zu vergleichen.“

Pankraz stört ein wenig das „bislang“ im letzten Satz. Der direkte Vergleich der Medikamente untereinander sollte grundsätzlich keine Voraussetzung für staatliche Zulassung sein. Auch Fragen der Preisgestaltung sollten möglichst ohne staatliche Ordonanz zwischen Pharmazeuten, Ärzten, Patienten und Versicherungen direkt entschieden werden. Worauf es einzig ankommt, sind Heilung und Hilfe für den Patienten, welcher seinerseits aktiv und fleißig am Gesundungsprozeß mitwirken muß.

Das war auch der Standpunkt des großen historischen Pharmazeuten Paracelsus. „Wer nur von anderen geheilt werden will, der wird nie weder gesund werden noch gesund bleiben“, predigte er. „Der äußere Arzt samt seiner Pflanzen und Säfte ist wichtig, aber wichtiger ist der innere Arzt mit seinen Erfahrungen und seinem Willen.“

Auch gegen unentwegtes Aufsuchen und Zusammenmischen pharmazeutischer Möglichkeiten hatte Paracelsus nichts, nichts gegen Experiment und Selbstexperiment, kollektives und individuelles Ausprobieren. „Das Böse lauert überall. Zum Gesundbleiben gehört der Mut von ganzen Stämmen.“ (Heute würde er wohl sagen: „Der Mut von Millionen“.) Voraussetzung des Mutes war selbstverständlich „die Liebe“, die den ganzen pharmazeutischen Prozeß bis in die feinste Verzweigung hinein durchziehen müsse. „Gott ist die Liebe, und so hat er niemals eine Krankheit entstehen lassen, für die er nicht auch eine Arznei geschaffen hat.“

Ob er je auf den heute so weit verbreiteten Gedanken hätte kommen können, daß seine geliebten Pharmazeuten und Großapotheker letztlich nichts weiter seien als geldgierige „Ökonomen“, die ihre Mitmenschen gegebenenfalls völlig kaltschnäuzig in bloße „Versuchskaninchen“ verwandeln? Daran darf man zweifeln. Man darf freilich auch am Wahrheitsgehalt solcher Behauptung zweifeln, trotz gelegentlicher Jubel-arien der DIHK.

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