© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

Grüße aus Moskau
Russisches Dilemma
Thomas Fasbender

Wer im kurzen nördlichen Frühling entlang der Petersburger Kanäle spaziert, atmet die reinste europäische Luft – was die Stadt an der Newa so ganz anders macht als andere russische Städte. Was gibt der nördlichen Hauptstadt, wie man sie bis heute nennt, diese unverwechselbare Identität? Sicher nicht nur die klassizistischen Fassaden, auch nicht die Nähe der Zarenresidenz Peterhof mit ihren Fontänen und goldenen Kaskaden, die mit Versailles aus demselben Wurzelstrunk erwachsen scheint.

Die eigentliche Trennlinie zwischen Europa und Asien bemißt sich nicht nach geographischer Länge und Breite. In Moskau ist schon auf dem Bahnsteig spürbar, wie sehr das asiatische Kraftfeld nach Westen ausstrahlt.

Die Hauptstadt schwingt mit einem anderen Grundton. Die Autos sind um Nuancen größer, die Menschen um Nuancen anders gekleidet, betonter Individualismus war in Moskau noch nie „in“. Stilbildend ist die bürokratische Macht in schwarzen S-Klasse-Limousinen, dezent und gesichtslos in schwarze Tuchmäntel gehüllt. Und die schönen jungen Frauen reicher Männer.

Das Wort Individualismus in seiner Essenz verkörpert, worin Ost und West sich unterscheiden. Auf den ersten Blick ist Rußland europäisch. Wer in Wladiwostok über die Straße geht, wird nie erraten, daß er zwei Zeitzonen östlich von Tokio ist.

Moskau und Sankt Petersburg – das Bild der beiden Hauptstädte trifft das russische Dilemma zwischen Asien und Europa. Seit Peter dem Großen blicken die Menschen neidvoll und bewundernd nach Europa. Mit dem Fernen Osten tun die Russen sich seit jeher schwer.

Das ist auch der Grund, weshalb das Land den Anschluß an Asien bislang verschlafen hat. Immerhin ist China seit 2010 Rußlands größter nationaler Handelspartner. In China ist die Wirtschaftsleistung seit der Finanzkrise um rund 60 Prozent gestiegen. Europa schrumpft derweil. Es mutiert zum „kranken Kontinent“, dem nach Jahrhunderten der Expansion und des Fortschritts die Puste fehlt. Mit Siebenmeilenstiefeln entwickelt Asien sich zur Jahrhundertoption. Wird Rußland die Herausforderung meistern?

Das Land scheint auf sich allein gestellt. Daher auch der Wunsch nach einem starken Staat mit einem starken Mann an der Spitze. Daß der Ruf nach Stalin-Denkmälern nicht verstummen will, liegt an dieser tiefen Sehnsucht.

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