© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

„Das ist das Deutsche“
Wie kaum ein anderer Schriftsteller der Gegenwart plädiert er für die Wiederentdeckung der kulturellen Seele der Deutschen –die der bis heute weltweit verehrte Komponist entscheidend mitgeprägt hat: Ein Gespräch mit Richard Wagner über Richard Wagner.
Moritz Schwarz

Herr Wagner, heißen Sie gerne Richard Wagner?

Wagner: Ja, aber das war nicht immer so. Es ist schon ein bombastischer Name, den man sich zwar merkt, hinter dem man aber auch zu verschwinden droht.

Heißen Sie eigentlich zufällig so?

Wagner: Ich bitte Sie – so heißt man nicht aus Versehen.

Also?

Wagner: Na, was glauben Sie?

Ihre Eltern waren Wagnerianer?

Wagner: Mein Vater, um genau zu sein. Obwohl er die Musik nicht hören konnte, da es sie im Rumänien der fünfziger Jahre nicht zu kaufen gab. Wie das aber mit Wagner ist: man liebt oder haßt ihn. Und ist man Wagnerianer, dann total, bis zum Fanatismus. Mein Vater sprach ständig von ihm, und kaum war ich geboren, nutzte er die Gelegenheit – zumal er mir damit einen aus seiner Sicht besonders deutschen Namen gab.

Warum konnte Ihr Vater in Ihnen nicht die gleiche Begeisterung für Wagner entfachen?

Wagner: Richard Wagner heißen und dann auch noch Wagnerianer sein – wäre das nicht etwas zuviel des Guten?

Vielleicht hat man ja keine andere Wahl: Die „Zeit“ schrieb unlängst über die „Droge Wagner“, der „verfällt, wer sie hört“.

Wagner: Möglicherweise weil ich von einem Entflammten großgezogen wurde; das ist der beste Schutz davor, in der Sache selbst zum Fanatiker zu werden. Dennoch ist Wagner für mich einer der größten, innovativsten Musiker des 19. Jahrhunderts. Er stellte eine Klangwelt her, wie es sie bis dahin nicht gab.

Es erscheint, als ob er vieles vorausnahm. Metal-Musik-Legende Joey DeMaio verehrt ihn gar als „Erfinder des Heavy Metal“.

Wagner: Na ja, in den Siebzigern drehten sie einfach den Synthesizer auf, und dann war das Emerson, Lake & Palmer. Wagner dagegen mußte noch selbst etwas einfallen, um seine Vision von Musik Wirklichkeit werden zu lassen. Das ging so weit, daß er die Instrumente umbauen ließ, um die ersehnten Tonlagen zu schaffen, etwa die Wagner-Tuba. Auch andere haben versucht, die Grenzen zu verschieben, Liszt, Bruckner, Mahler, später Hans Pfitzner, keiner aber wagte sich dabei so weit vor wie Wagner.

Warum?

Wagner: Wagner begann sein Werk zu einer Zeit, die zu ihrem Ende gekommen war. Das deutsche Lied etwa war ausgesungen und Wagner zeigte – wenn man einmal von den Wesendonck-Liedern absieht – kaum Interesse, dazu noch etwas beizusteuern. Auch die literarische Romantik hatte Mitte des 19. Jahrhunderts alle großen Schauer probiert. Wagner erkannte, daß er diese in der Musik noch wahrmachen konnte, in einer Größe, daß kein anderer mitkam. Und für dieses Unterfangen war ihm die gewaltige Sagenwelt der Germanen, die er komplett in sein Werk verpflanzte, gerade eben groß genug.

2011 veröffentlichten Sie gemeinsam mit Thea Dorn den vielgelobten, monumentalen Band „Die deutsche Seele“. Ein eigenes Kapitel hat Wagner darin allerdings nicht.

Wagner: Wagner wird in aller Ausführlichkeit im Essay über die Musik behandelt, aber er hat in der Tat kein eigenes Kapitel. Ein Buch wie dieses können Sie nur als offenes Werk konzipieren, ohne den Anspruch der Vollständigkeit, sonst würde es jeden Rahmen sprengen, außer dem des Buchhalterischen.

Ist Wagner die Seele der Deutschen?

Wagner: Sehr lange haben die Deutschen im 19. Jahrhundert versucht, ihre Kunst entlang der Antike zu gestalten. Die Deutschen sehnten sich danach, Griechen zu sein. Wagner griff ebenfalls zurück und wollte das Deutsche – nach antikem Modell – als das Germanische modellieren: Er wollte in der deutschen Seele eine Mythologie wie die griechische verankern. Eine Mythologie, die als historisches Erbe vorhanden war, die aber im kollektiven Gedächtnis noch nicht diesen Stellenwert hatte.

Hat Wagner die Deutschen neu erfunden?

Wagner: So weit würde ich nicht gehen, aber Wagner griff auf, was in Deutschland bald unglaublich populär wurde. In der Epoche Wagners begannen die Deutschen ihr neues wilhelminisches Reich mit Denkmälern auszuschmücken, dem Kyffhäuser-, Niederwald- oder Hermannsdenkmal: Zwanzig Jahre, in denen sich das Kaiserreich seine Mythologie schuf. Es war auch die Zeit von Felix Dahn, Karl May und Gustav Freytag.

Diese Zeitung schrieb unlängst, wer die Deutschen verstehen wolle, müsse einmal Wagners Musik gehört haben.

Wagner: Wenn man ihn bescheiden liest, dann stimmt der Satz. Immerhin war Wagners Zeit ja die Zeit der Geburt des deutschen Nationalstaats.

Aber gilt das auch für die Deutschen heute?

Wagner: Das eben ist die Frage, denn die Deutschen leben ja nach 1945 mehrheitlich in einer Gesellschaft, die ziemlich reizlos ist, beinahe frei von gemeinsamer Symbolik, jedenfalls ohne jedes öffentliche Ergriffensein. Allein die Demut haben wir zum letzten möglichen Pathos erhoben und ihr einige, in einer gefühlsmäßig völlig herunterdimensionierten Gesellschaft seltsam anmutende, Pathostage gewidmet. Im Grunde leben wir ohne öffentliches Gefühl, weil wir glauben, wir könnten uns das nicht mehr leisten.

Und dem ist nicht so?

Wagner: Ist der Ausnahmezustand leichter zu ertragen als die Normalität? Ich halte es für falsch und habe auch nie verstanden, warum das geglaubt wird. „Die deutsche Seele“ haben wir auch deshalb geschrieben, weil wir damit sagen wollten: Es ist genug, genug des Pathos der Demut, genug der falschen Floskeln! Fangt wieder an zu fühlen! Deutsch zu sein ist etwas Selbstverständliches. Dieses „Man darf das nicht, weil man Deutscher ist“, das konnte ich nie akzeptieren.

Warum nicht?

Wagner: Ich bin im stalinistischen Rumänien aufgewachsen, in der Diktatur. Das Fundament der Freiheit war für mich stets der Grundsatz, daß ich alles denken darf. Man ist beim Denken der Wahrheit verpflichtet und sonst nichts. In Deutschland wird aber so getan, als sei das Denken den Folgen verpflichtet. Das aber ist kein Denken, das ist Belehrung.

Wenn Pathos Sünde ist, ist Wagner natürlich ein Skandal.

Wagner: Ganz zweifellos, erscheint das Pathos doch als Kern der Sache Wagners.

Inwiefern?

Wagner: Es ist, als ob er einen Eisberg über einen Ozean schleppte. Wagner wollte das Erhabene, das Majestätisch-Bombastische. Sein Werk ist kein aufklärerisches, kein Werk, das entschlüsselt, sondern eines, das ehrfürchtig macht. Wagner hat eine ganz andere Sicht auf Kunst, als wir sie heute gewöhnt sind.

Nämlich?

Wagner: Unser Kunstverständnis hat seine Bezüge immer noch aus der Weimarer Republik – was übrigens bis heute kaum kritisch reflektiert wird. Jedenfalls, diese Art kritischer Kunst geht mit der Welt Wagners nicht zusammen.

Wieso ist dann Wagner nicht längst obsolet?

Wagner: Weil auch dieses Kunstverständnis Wagner nicht ignorieren kann. Siehe Schlingensief. Wagner hat eine Musik geschaffen, an der niemand mehr vorbeikam, ohne sich zu verneigen oder ins Stolpern zu geraten. Kaum ein Neomarxist, der nicht vom Fieber der Metaphysik heimgesucht wurde, ob Bloch, Adorno oder Benjamin. Das heutige Kunstverständnis glaubt, ihm wenigstens damit beikommen zu können, ihn sich anzueignen, egal wie fragwürdig die Ergebnisse aussehen. Doch ihn vom Sockel zu stürzen, das wagt man weder, noch vermag man es. Das Gesamtkunstwerk läßt sich mit den herkömmlichen Mitteln schlecht bekämpfen.

Aber hat Wagner die Deutschen nun auf die abschüssige Bahn gebracht oder nicht?

Wagner: Wir wissen, Hitler mochte Wagner. Aber was sagt uns das? Nichts. Zumal Hitlers Lieblingsoper angeblich „Rienzi“ war, nicht gerade ein typisches Wagner-Stück. Eine Revolutionsgeschichte, vermutlich das Politischste, was wir bei Wagner finden, das hat Hitler wohl gefallen. Ansonsten ist „Rienzi“ vom Gestus her eher Verdi. Nein, ich muß sagen, ich kann diese These, Wagners Werk habe mehr oder weniger das Dritte Reich samt Weltkrieg und Holocaust begründet, nicht nachvollziehen. Das erscheint mir eine recht primitiv gezimmerte Konstruktion zu sein.

Gezimmert zu welchem Zweck?

Wagner: Es gab im vergangenen Jahrhundert eine Reihe von Denkern, keine Aufklärer, wie sie sich selbst gerne sahen, eher „Erklärer“. Einer von ihnen, Georg Lukács, war der einflußreichste neomarxistische Ästhet seiner Zeit. Er gilt als Urheber der Idee, man könne in der Geschichte zurückgehen bis zu einem bestimmten Punkt, vielleicht vor Bismarck, Wagner oder Luther, und dann quasi neu starten. Wie bei einem Computer, bei dem Sie die Reset-Taste drücken. Diese Idee ist heute zu einer Art zu denken geworden, ohne daß wir uns dessen bewußt sind. Ich meine aber, daß dies kein Denken ist.

Sondern?

Wagner: Eher eine Art fixe Idee. Tatsächlich gibt es nirgendwo eine Start-rampe. Das Dritte Reich ist nicht etwas, was man auf eine Ursache zurückführen kann. Man würde es gerne, weil man dann eine Erklärung hätte, wie es möglich war, das verstehe ich. Aber wie so oft gibt es darauf nicht eine Antwort und so muß man sich letztlich mit der Frage begnügen – so unbefriedigend uns das erscheinen mag.

Die Deutschen gelten als Volk, dessen Staatlichkeit vom Pech verfolgt ist, dessen Nationalität daher aus seinen Denkern und Künstlern lebt. Sind Goethe und Wagner die Patres familias der Deutschen?

Wagner: Goethe hat sicherlich seinen Platz in der Allee der Besten, tatsächlich aber sah er sich in seinem provinziellen Weimar notgedrungen als Weltbürger. Und so verkündete er der deutschen Nation, daß die Deutschen auch keinen Nationalstaat bräuchten. Das hat mich immer gestört. Ich finde Goethe nicht so deutsch, wie man heute meint.

Sehnt sich sein „Faust“ nicht nach dem großen Gefühl, das Wagner bietet, ist er nicht ebenso erlösungssüchtig wie dessen Musik?

Wagner: Ja – doch legen Sie ein Goethe-Gedicht neben eines von Hölderlin, dann sehen Sie: Goethe ist ein raffinierter Könner, eine Art Enzensberger seiner Zeit. Einer, der die Weltliteratur erfindet, um Weltliterat zu sein. Hölderlin aber, Kleist, Büchner oder Grabbe, das waren Ergriffene, Unbedingte, Charaktere, die sich was trauten. Wagner dagegen sehe ich singulär. Er erhebt sich über das Ganze, wie eine kosmische Harmonie.

Seine Musik ist suggestiv, schicksals- und erlösungssüchtig, sprich antirational, antiaufklärerisch, antiemanzipatorisch – die reine Konterrevolution. Ist das nicht in der Tat das Deutsche an Wagner?

Wagner: Es war in der jüngeren Geistesgeschichte die Französische Revolution, zu der sich die Kulturen Europas in Bezug setzen mußten. Dabei ist sehr viel von dem entstanden, von dem wir Deutsche selbst glauben, es sei antirational. Aber ist etwa die Romantik tatsächlich antiemanzipatorisch? Sie ist zwar nicht Aufklärung, aber sie ist folglich nicht das Gegenteil, sondern sie ist eine andere Form von Verstehen. Sie ist ein Verstehen der Welt durch Symbole. Das ist das Deutsche und das ist auch Wagner.

Aber sind die Deutschen heute noch so?

Wagner: Ich glaube, mehr, als sie ahnen. Die Deutschen meinen ja auch, sie seien perfekte Kosmopoliten und merken nicht, wie imperial ihr Denken tatsächlich immer noch ist. Oder sie halten Sekundärtugenden für etwas Anrüchiges, doch ihr liebster Politiker ist Helmut Schmidt, die Inkarnation der Sekundärtugend. Was vom Nationalstaat der Deutschen geblieben ist, ist Rock’n‘Roll, heißt es. Dabei reden wir, zumindest aktuell, von einem europäischen Musterstaat. Warum soll sich das Deutsche mit Untertiteln begnügen? Jeder strebende Mensch hat das Bedürfnis, die eigene Existenz durch Feierlichkeit an Bedeutung gewinnen zu lassen. Bayreuth ist bis heute nicht nur wegen des Glamours ausverkauft, sondern weil wir Deutschen merken, daß da noch etwas ist. Daß wir da, neben der Reserve in unserer Zentralbank, noch einen Schatz haben.

 

Richard Wagner, der preisgekrönte Schriftsteller veröffentlichte 2011 zusammen mit der Publizistin Thea Dorn bei Knaus den vielgelobten Band „Die deutsche Seele“. Dieses „grundgescheite Buch“ (Denis Scheck) ist nicht nur eine „kluge und kenntnisreiche Reflexion“ (Deutschlandfunk) dessen, was die deutsche Seele ausmacht, sondern auch eine „sinnliche Liebeserklärung“ (Zeit) an ein deutsches Lebensgefühl. Geboren 1952 im rumänischen Banat, siedelte Richard Wagner 1987 gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau, der späteren Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, nach Deutschland aus. Er war Gastautor etlicher Zeitungen wie NZZ, FAZ oder Welt und veröffentlichte hochgelobte Romane wie „Habseligkeiten“ (2004) oder „Das reiche Mädchen“ (2007). Aufmerksamkeit erregten auch seine scharfen, mitunter heftig befehdeten Gesellschaftsanalysen wie „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“ (2006) oder „Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte!“ (2008)

Foto: Der „Meister“ formt die Welt der Deutschen (Szene aus dem Trickfilm „Richard. Im Walkürenritt durch Wagners Leben“, der am 24. Mai in Leipzig Premiere hat): „Er wollte in der deutschen Seele eine Mythologie wie die griechische verankern“

 

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