© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/13 / 10. Mai 2013

Der Flaneur
Lektion beim Herrenausstatter
Toni Roidl

Anzüge finde ich im ersten Stock, wie mir ein tadellos gekleideter Verkäufer von oben herab mitteilt. Seinem Blick nach wird er sofort lüften, sobald ich den alteingesessenen Herrenausstatter verlassen habe. Das Traditionshaus atmet Geschichte. Man hat sich den Dünkel der Wirtschaftswunderjahre bewahrt. Das habe ich nun davon, daß ich eine politisch korrekte Kaufentscheidung zugunsten des Einzelhandels treffen wollte.

„Er zuckt zusammen. Sein Blick wird panisch. Die Verkäuferin ignoriert sein Elend.“

Oben außer mir nur zwei Kunden, ein Ehepaar im Pensionsalter, mindestens zwei Steuerklassen über mir. Ich streife durch die Reihen der Kleiderständer, kann mich nicht entscheiden. Entweder sehen die Sakkos nach Beerdigung aus oder nach Fasching. Dabei komme ich den Eheleuten näher und kann ihr Gespräch anhören.

Er probiert ein neues Sakko, kariert mit Lederflicken auf den Ellbogen. Man sieht ihm an, daß er sich unwohl fühlt. Er schaut gequält und sagt nichts. Seine Gattin ist begeistert. Entzückt jubelt sie in hoher Tonfrequenz: „Ja, wunderbar! Siehst du! Und das trägst du dann immer! Das ganze alte Zeug schmeißen wir alles weg!“ Er zuckt zusammen. Sein Blick wird panisch. Seine Augen suchen Hilfe bei der Verkäuferin, doch die ignoriert sein Elend diskret.

Loriot hätte die Situation nicht schöner inszenieren können. Vielleicht proben die drei einen Sketch? Ich bin heilfroh, daß ich ohne meine Frau hier bin. Der vorherige Versuch, den Anzug gemeinsam auszusuchen, ging gehörig schief. Ich brauchte höchstens zehn Sekunden, um festzustellen, daß das Sortiment des Modegeschäfts nichts hergab. Sie brauchte eine Stunde, um die Damenkollektion im Erdgeschoß zu inspizieren – mit mir und unserem Sohn im Schlepptau.

Der Zehnjährige analysiert die Lage messerscharf: „Mama wollte gar nicht wegen dem Anzug hierhin, sondern nur um nach Sachen für sich zu gucken.“ Ich hoffe, er merkt sich diese Lektion fürs Leben. Die Kinder sollen’s ja mal besser haben.

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