© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/13 / 10. Mai 2013

Hegel als Mannschaftsführer
Zwiespältiges Urteil zu Vittorio Hösles Abriß über die Geschichte der deutschen Philosophie
Felix Dirsch

Vittorio Hösle gilt als einer der wenigen genialen Köpfe der europäischen Gegenwartsphilosophie. In sehr jungen Jahren promoviert und habilitiert, ist der Sohn eines bekannten italienischen Romanisten das unübertroffene Glanzlicht der mittleren Gelehrtengeneration dieser Wissenschaftsdisziplin. Der Anfangsfünfziger lehrte etliche Jahre in Deutschland, ehe er an einer katholischen Hochschule in den USA seine Heimat gefunden hat.

Hösle weiß um die länderübergreifende Perspektive dieses Faches im Grundsätzlichen. Jedoch ist kaum zu bestreiten, daß deutsche Philosophie durchaus genuine Züge trägt. Wer die Weltgeschichte des Denkens studiert, merkt unschwer, daß es spezifische Phänomene wie den Idealismus weithin nur in Deutschland gab. Auch die Romantik gilt häufig als besonders „deutsch“, wenngleich vergleichbare, weniger ausgeprägte Erscheinungen in anderen Ländern existierten, etwa in Frankreich. Diese Binsenweisheit war immer schon bekannt. Betonte Heideg-ger nicht mit Recht, die Sprachen der Deutschen und der Griechen seien einzigartige Medien zur Darstellung der Wahrheit? Hösle folgt ihm insofern, als er die Relevanz der Wissenschaftssprache für die Philosophie hervorhebt.

Nach 1945 wurde es schwierig, solche apodiktischen Urteile zu fällen. Hösle ist sich der Brisanz bewußt, die seine Erörterungen beinhalten.

Die erste Frage, die nicht einfach zu beantworten ist, lautet: Wann beginnt die Geschichte der deutschen Philosophie? Die Untersuchung nimmt bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues ihren Ausgang – nicht zu Unrecht, kannte doch das spätere Mittelalter zum einen durchaus nationale Färbungen; zum anderen hoben sich beide Denker vom mittelalterlichen Hauptstrom hinreichend ab.

Fichte, Schelling und Hegel als Maßstab angelegt

Eine weitere Frage beantwortet sich für den Autor relativ leicht: nämlich die nach der Achse der deutschen Philosophie. Der Idealismus-Kenner legt den an Fichte, Schelling und Hegel geschulten Maßstab an nachfolgende Epochen an. Unproblematisch ist das ungeachtet des herausragenden Ranges dieses Dreiergestirnes nicht, wird doch auf diese Weise jedes Reflektieren nach 1830 mehr oder weniger als post-idealistisch degradiert. Ein Beispiel: Im Abschnitt über Husserl schreibt Hösle, daß dieser aufgrund seiner „Bedenken gegenüber den theologischen Wurzeln“ Hegels übersehe, daß „dessen triadisches System des objektiven Idealismus begründungstheoretische Vorzüge … gegenüber dem Dualismus von Ideal- und Realwissenschaft“ habe.

Widersprechen muß man dem Verfasser bezüglich einiger Wertungen über Traditionen der jüngeren und jüngsten Vergangenheit. Das beginnt schon bei Nietzsche, der mehr oder weniger zum Stichwortgeber des Nationalsozialismus herabsinkt. Fast erinnert man sich an die holzschnittartige Polemik Georg Lukács’ in dessen Buch „Die Zerstörung der Vernunft“. Ein so bedeutender Nietzsche-Interpret wie Walter Kaufmann hat schon vor Jahrzehnten derart simple Entwicklungslinien ad absurdum geführt.

Das Nietzsche-Kapitel bei Hösle ist ein klarer Rückfall. Ähnliches kann man im Hinblick auf den Abschnitt über Martin Heidegger, Carl Schmitt und Arnold Gehlen konstatieren. Mit Recht arbeitet Hösle einige Inhalte von Heideggers „Sein und Zeit“ heraus, etwa das Fehlen einer ethischen Dimension oder den dezisionistischen Grundzug. Beides läßt Heideggers Haltung im Jahr 1933 prima vista plausibel erscheinen. Freilich ist Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus vielschichtiger, als man aufgrund einiger zeitbedingter Stellen im frühen Hauptwerk vermuten kann. Nicht anders ist es bei Gehlen und Schmitt.

Zu den analytisch wertvollen Passagen der Abhandlung zählt der Abschnitt über zentrale philosophische Strömungen der Bundesrepublik. Von großer Könnerschaft zeugt Hösles Fähigkeit, geistesgeschichtliche Strömungen einzuordnen. So ist es zweifellos zustimmungsfähig, wenn er den Aufstieg der Diskursethik in einem Zeitalter als plausibel betrachtet, das mehrheitlich zwar eine objektive Wertethik ablehnt, jedoch gleichzeitig Angst vor dem Nihilismus hat, der – ob zu Recht oder Unrecht – häufig mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wird. Die „reale Kommunikationsgemeinschaft“ sollte in der Tat nach den Verbrechen des Nationalsozialismus Legitimität erzeugen. Ein echtes Kriterium für Wahrheit schafft ein solches moralistisch anmutendes Konstrukt aber keineswegs – schon allein deshalb nicht, weil ihm die absolute Verbindlichkeit fehlt. Auch für Habermas’ Denken wird eine differenzierte Gewinn- und Verlustrechnung präsentiert. Gleichfalls nachzuvollziehen ist Hösles Ausblick auf einen zukünftigen Niedergang der deutschen Philosophie, für den es bereits gegenwärtig hinreichende Indizien gibt.

So stellt sich beim Lesen der Überlegungen Hösles ein zwiespältiges Resultat ein: Einerseits ist man über seine stupende Gelehrsamkeit erfreut. Selbst der Kenner erfährt einiges Neues. Andererseits ist der Rückblick auf die im Grunde genommen von ihm schon verabschiedete deutsche Philosophie merklich reduktionistisch und zu sehr normativ aufgeladen.

Vittorio Hösle:      Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist. C.H. Beck, München 2013, gebunden, 320 Seiten, 22,95 Euro

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