© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/13 / 03. Mai 2013

Der Flaneur
Macht des Minirocks
Tony Roidl

Das Spektrum der Geschäftsideen, mit denen Erwerbslose in der Fußgängerzone Geld verdienen wollen, ist vielfältig. Am erfolgreichsten sind die Musiker und Pflastermaler. Doch dann kommt sie:

Eine junge Frau, schätzungsweise Anfang bis Mitte zwanzig, lange dunkle Haare, ein bildschönes Gesicht. Bei der Vergabe der Körpermaße von der Natur großzügig bevorzugt. Sie trägt ein weites schulterfreies T-Shirt und einen signalroten Lack-Minirock, für den kaum mehr als ein DIN-A4 Blatt Material draufgegangen ist. Außerdem hat sie vier große Plastiknäpfe dabei.

Sie stellt sich vor den alten Glockenturm, wo sich die Hauptstraßen der Altstadt kreuzen. Dann zieht sie ihre Schuhe aus und verteilt die Näpfe auf dem Boden, so daß sie ein Quadrat mit etwa drei Metern Seitenlänge bilden. Innerhalb der markierten Fläche kniet sie auf allen vieren und beginnt mit Kreide auf das Pflaster zu zeichnen. Der Ausschnitt ihres Oberteils öffnet sich weit. Ihren Po streckt sie so in die Höhe, daß man Angst um die Reißfestigkeit des Rocks haben muß.

Ihre Kreidezeichnung ist dilettantisch, aber die Wirkung ihrer Werbestrategie enorm. Ihre Sammelschälchen füllen sich in Windeseile. Ein Fahrradfahrer, der seinen Kopf um 180 Grad nach ihr zu wenden versucht, entgeht nur knapp einer Kollision mit einem Bus. Eine mißmutige Ehefrau zieht den Arm ihres untergehakten Gatten fester an sich und zieht ihn flugs voran. Er verrenkt seinen Hals nach der jungen Schönen wie ein Hund an der Leine.

In weniger als einer halben Stunde hat sie einen unverschämten Umsatz gemacht. Das Kreidebild ist Nebensache, SIE ist das Bild. Doch dann zieht in Minuten eine schwarze Gewitterfront heran. Erste dicke Tropfen fallen. Eilig leert sie ihre Schüsseln und zieht ihre Schuhe wieder an, ihre Fußsohlen ganz schwarz vom Straßenstaub. Weg ist sie. Ihre Kreidestriche verschwimmen im Platzregen.

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