© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/13 / 03. Mai 2013

Neue Blicke Richtung Osten
Teil zwei der Reihe „Rußlands Außenpolitik“: Das belastete Verhältnis zu den baltischen Staaten
Thomas Fasbender

Kein nachbarschaftliches Verhältnis Rußlands seit dem Ende der Sowjetunion ist derart belastet wie das zu den drei baltischen Ländern Litauen, Lettland und Estland. Die Gründe dafür liegen weitgehend im Emotionalen, in der gegenseitigen Wahrnehmung und der Erblast einer langen gemeinsamen Geschichte.

Unter den früheren Sowjetrepubliken sind es nur diese drei Staaten, deren Eliten sich einhellig und ohne Vorbehalt zum Westen bekennen. Wobei die Betonung auf dem Wort Westen liegt – wenige Völker in der EU fühlen sich den USA derart eng verbunden wie die Esten, Letten und Litauer.

Die Probleme sind tief verwurzelt und hochaktuell zugleich. Erst im März 2013 wurde der litauische Politiker Algirdas Paleckis (41) verurteilt, weil er die Ereignisse am „Vilniuser Blutsonntag“ im Januar 1991 nicht im Einklang mit der offiziellen Geschichtsschreibung darstellt. Gemäß Paragraph 170 des litauischen Strafgesetzbuches ist die Leugnung der sowjetischen Aggression und Okkupation vor 1991 strafbewehrt.

Das Baltikum und Rußland verbindet eine so fruchtbare wie komplizierte Geschichte. Fast zwei Jahrhunderte, bis 1918, war es ein Teil des russischen Zarenreichs, regiert vom gesellschaftlich dominierenden deutschbaltischen Adel. Der Erste Weltkrieg brachte Litauen, Lettland und Estland die Unabhängigkeit, die mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 und dem Einmarsch der UdSSR 1940 bald wieder verlorenging.

Gegen Kriegsende, vier Jahre nach der Vertreibung der Roten Armee durch die Wehrmacht 1941, gab es für viele Balten nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Durch Greueltaten und massenhafte Deportationen hatten die Kommunisten 1940/41 die Bevölkerung gegen sich aufgebracht. An die hunderttausend Balten schlossen sich, als die Front 1944 von Osten her wieder auf ihr Territorium rückte, in Formationen der Waffen-SS den Deutschen an.

Die Geschehnisse jener Jahre belasten das russisch-baltische Verhältnis bis heute. In Rußland idealisiert man die Rolle der UdSSR als Befreierin vom Faschismus. Im Baltikum unterstellt man der Sowjetunion hingegen, vom Start weg eine imperialistische Politik verfolgt zu haben. Beides sind Positionen, die in ihrer Einseitigkeit an der historischen Wahrheit scheitern, sich im Selbstverständnis der Parteien jedoch tief einprägt haben.

Das nächste Problem ist der hohe Anteil der russischsprachigen Bevölkerung – über eine Million ethnische Russen leben in den drei Ländern. In Lettland und Estland liegt der russische Anteil bei rund einem Viertel, die meisten davon in den größeren Städten. Viele besitzen keine Staatsbürgerschaft, da die beiden Länder ohne Kenntnis der Landessprache auch Alteinwohner nicht naturalisieren. Da Rußland den staatenlosen „Balten“ die visumfreie Einreise gestattet, spüren manche auch gar keinen Anreiz, einen Paß der neuen Heimat zu beantragen.

Die Aufnahme der drei baltischen Staaten in Nato und EU im Jahr 2004 war für Moskau ein schwer zu verdauender Affront. Wobei hinzukam, daß der Schritt nicht nur dem Wunsch der drei Länder entsprach, sondern auch die Bemühungen der USA krönte, die EU endgültig in die Strategie des „Containment“, der Eindämmung Rußlands einzubinden.

Im Gegenzug häuften sich russische Wirtschaftssanktionen. Wie schon bei früheren Gelegenheiten ging es dabei um Maßnahmen, die aus russischer Sicht vor allem innenpolitische Bedeutung hatten. So wurde die Versorgung des lettischen Erdölhafens Ventspils 2002 just in dem Moment abgestellt, als der russische Ölhafen Primorsk bei Sankt Petersburg in Betrieb ging. Auch der Konflikt 2006 um die einzige baltische Raffinerie im litauischen Mazeikiai besaß einen innerrussischen Hintergrund: die Enteignung des Öl-Magnaten Michael Chodorkowski, zu dessen Jukos-Imperium die Raffinerie zu jener Zeit noch gehörte.

Inzwischen hat sich die Bedeutung der baltischen Infrastruktur für den großen Nachbarn ohnehin stark relativiert. Rußland verfügt heute mit Primorsk, Ust-Luga und Sankt Petersburg über die drei modernsten Ostseehäfen. Gleichzeitig beginnen die baltischen Länder die Nähe zum russischen Markt zu schätzen. Während aus Westeuropa seit der Finanzkrise deutlich weniger Bestellungen kommen, führt das anhaltende Wachstum in Rußland bei vielen Unternehmen zu einer Reorientierung nach Osten.

Auch im Geschäftsleben hinterläßt die gemeinsame Geschichte ihre Spuren. Wenn es um das tägliche Geschäft geht, sind sowohl in Rußland als auch im Baltikum die guten Beziehungen wichtiger als der Markt. So wird auch der grenzüberschreitende Handel auf beiden Seiten fleißig zu Zwecken genutzt, die bei näherer Betrachtung den Namen Zollbetrug verdienen. Ungeachtet aller Schwierigkeiten bahnt sich im russisch-baltischen Verhältnis Entspannung an. Dazu trägt im Westen die Ernüchterung über den Ausgang der Blumenrevolutionen und diversen Frühlinge der vergangenen Jahre bei – Ansätze zu einer neuen Realpolitik entstehen. Zudem hat der Kreml verstanden, daß Rußland ohne echte Modernisierungsschritte zu einer marginalen Regionalmacht schrumpft.

Noch ist die russische Führung uneins, wie Modernisierung aussehen kann, die nicht die Fehler des Westens wiederholt. Mit Polen ist man auf dem Weg der Annäherung immerhin schon gut vorangeschritten – nicht zuletzt, weil die konservativen Eliten in beiden Ländern eine überzogene Verwestlichung fürchten.

Auch die nordischen Staaten Finnland, Schweden und Norwegen geben ein Beispiel ab, wie man mit den Russen bei allem Anderssein ein Auskommen finden kann. Die Finnen haben es in den Jahrzehnten des Kalten Krieges und seitdem geschafft, Freiheit, Marktwirtschaft, kulturelle Zugehörigkeit zum Westen und enge Beziehungen zum östlichen Nachbarn fruchtbar zu verbinden. Das Wort „Finnlandisierung“, im Westen vor 1989 mit verächtlichem Unterton gebraucht, beschrieb in Wirklichkeit eine kluge Politik ohne Dogmen und Ideologie.

 

Rußlands Außenpolitik : Das Baltikum

Einundzwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist es Zeit, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Was ist aus der Weltmacht geworden? Welche Interessen verfolgt Rußland? Wie ist das Verhältnis zu den Nachbarn? Teil eins der Reihe beschäftigte sich mit dem Verhältnis Rußlands zum Westen (JF 3/13). Es folgen das Baltikum, Rußlands Beziehungen zur Ukraine/Weißrußland, Moskaus Kaukasuspolitik sowie dessen Politik in Zentralasien.

Foto: Menschenkette durch das Baltikum am 28. August 1989: Aufstand gegen die Annexion Estlands, Lettlands und Litauens durch die Sowjetunion

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